Missbrauchte Kinder können oft nur schlecht mentalisieren (Hypomentalisation)

Menschen, die sich weitgehend gesund entwickeln konnten, können gut über sich und andere Menschen nachdenken – man sagt: Sie haben eine gute Reflexionsfunktion, sie können gut mentalisieren. Bei Menschen, die in der Kindheit missbraucht und misshandelt wurden, ist diese Mentalisierungsfähigkeit häufig relativ stark eingeschränkt. Sie haben zwar einerseits gute Antennen für den anderen, andererseits fällt es ihnen jedoch schwer, sich vorzustellen, aus welchen Gründen andere Menschen wirklich etwas sagen oder tun. Sie gehen oft vom Schlechtesten aus. Zu sehr sind sie verhaftet in alte Muster, nach denen einst ihre Eltern gehandelt haben.

Wir können uns gut in einen anderen einfühlen, wenn wir uns selbst gut kennen und etwas Ähnliches wie der andere erlebt haben. Kleine Kinder kennen sich selbst noch nicht so gut, jedoch erforschen sie schon früh die innere Welt der Eltern, damit sie sich ihnen anpassen können. Die Kinder wiederum lernen, wer sie selbst sind, indem die Eltern sie spiegeln und über sie nachdenken.

Gewalttätige Eltern aber wollen oft gar nicht wissen, was im Kind vorgeht. Sie überfahren es und tun so, als würde das Kind nicht leiden. Würden sie anders vorgehen, würden sie ihre Scham deutlicher bemerken. Ein besonderes Beispiel hierfür ist die Vojta-Therapie beim Baby: Hier berichten Mütter häufig, dass Therapeutinnen ihnen gesagt hätten, sie sollten das Schreien des Kindes ignorieren.

„Ich will die Hölle nicht sehen“

Missbrauchte Kinder können kaum verstehen, was in den Eltern vorgeht. Zu grausam wäre es, wenn ein Kind entdecken würde, wie mental leer die misshandelnde Mutter/der misshandelnde Vater ist und welch brutale Gedanken die Eltern haben. Das will sich das Kind nicht ausmalen, weil es zu schrecklich wäre.

Das Kind rettet sich, indem es sich vorstellt, dass die Eltern doch irgendwo gut sind oder indem es einfach gar nicht über die Eltern nachdenkt. Zwar kann es schnell erkennen, wann der nächst Angriff naht, aber ein weiteres Nachdenken über die innere Welt der Eltern ist nicht möglich.

Wegschauen

Das Kind ist in seiner Situation quasi gezwungen, das schreckliche Innere der Eltern auszublenden. Später haben die Betroffenen manchmal fast eine Phobie vor dem Nachdenken. Erst langsam können sie nachträglich das Mentalisieren erlernen, wenn sie die Ruhe und die Gelegenheit dazu haben (z.B. in einer Psychoanalyse).

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Studien und Links:

Ensink, Karin et al. (2015):
Mentalization in children and mothers in the context of trauma
An initial study of the validity of the Child Reflective Functioning Scale
British Journal of Developmental Psychology, doi: 10.1111/bjdp.12074; 2015
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/bjdp.12074/abstract

Schneider-Rosen & Chicchetti (1991):
Early self-knowledge and emotional development.
Visual self-recognition and affective reactions to mirror self-images in maltreated and non-maltreated toddlers.
Developmental Psychology, 27 (3): 471-478
DOI: 10.1037/0012-1649.27.3.471
http://psycnet.apa.org/journals/dev/27/3/471/

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.10.2015
Aktualisiert am 15.9.2023

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