Verbrannte Haut – Leben nach Gewalterfahrung

Das Kind, es wird gequetscht. Es ist in schlechten Händen. Es schreit, doch es wird nicht gehört. Es ist unerträglich. Viele Monate und Jahre erlebt das Kind diese Gewalt. Das Kind ist beschädigt am ganzen Körper. Und an seiner Seele. Die Gewalt ging ihm unter die Haut. Es ist unfähig geworden, sich berühren zu lassen. Es heißt, die Haut erneuere sich alle vier bis sechs Wochen. In einer Studie der Uni Frankfurt fanden Wissenschaftler heraus, dass das Gefühl des Beschmutztseins dadurch verringert werden kann, dass man den Betroffenen verdeutlicht, wie oft sich die Haut seit den Missbrauchserfahrungen bereits erneuert hat (Jung et al., 2011, PDF). Doch die Spuren des Erlebten sitzen noch viel tiefer: in den Propriozeptoren, also den Tiefensensibilitäts-Rezeptoren der Muskulatur. Die kann man nicht austauschen.

Wenn Gewalt auf einem weichen Teppich stattfindet, wird das Weiche an sich zum Fluch.

Erträgliche Gewalt, unerträgliche Zärtlichkeit

Manchmal kommt es dem Erwachsenen, der als Kind Gewalt erlebt hat, so vor, als könne er nur noch Härte ertragen. Jede Zärtlichkeit löst in ihm einen unglaublichen Schmerz aus. Jede Berührung, ja sogar berührende Worte führen zum Schmerz. Es ist, als sei der Mensch in der Hölle gewesen. Menschen mit verbrannter Haut darf man nicht anfassen, auch nicht sanft streicheln, wenn die Wunden frisch sind. Sie kommen in ein Bett, in dem ihre Haut kaum berührt wird. Nur so können sie das Leben ertragen. Und wenn die Haut verheilt ist, dann ist sie vernarbt. Zärtliches Streicheln nimmt diese Haut nicht mehr wahr. So fühlt sich der beschädigte Mensch. Doch wie kommt er da raus?

Hinfühlen.
Eine Chance hat der Betroffene, wenn es ihm möglich wird, seine Schmerzen erneut zu spüren, während ein anderer da ist, der es mit ihm aushält. So bekommt er wieder Zugang zu sich selbst und er kann sich selbst besser verstehen und sanfter behandeln. Auch die Natur kann helfen. Feuchter warmer Wind kann die Haut streicheln. Während man im Wasser schwimmt, fühlen sich die Muskeln frei an und die gequetschten Punkte sind nicht länger gequetscht. Sie kommen wieder heraus und werden glatt. Es ist vielleicht, als hätte überhaupt nie jemand darauf herumgedrückt. Und: Es gibt Bereiche am und im Körper, die unbeschädigt geblieben sind.

Annehmen

Paradoxerweise kann man sich wieder heiler fühlen, wenn man seine Beschädigungen genau spürt. Man kann sie spüren, ohne sich dagegen zu wehren und dann kann man sie endlich aufnehmen. Solche Erfahrungen kann man zum Beispiel in einer Psychoanalyse machen – hier ist jemand da, der es mit einem aushält, der den Schmerz sieht und mit erträgt. Das kann sich dann anfühlen wie eine Ganzkörperheilung. „Ich bin ein gesunder Krebskranker“, sagte mein Professor mal. Er fühlte sich vollkommen ganz und gesund, so, wie er war, trotz der Beschädigung. Man spürt: Diese Schmerzen waren immer da und man wird mit ihnen alt werden, aber sie sind nicht mehr abgetrennt, sondern irgendwie werden sie in den Körper und in die Seele so aufgenommen, dass man sich wieder ganz fühlt … und sich später vielleicht sogar wieder berühren lassen kann.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Jung, Kerstin et al.
Das Gefühl des Beschmutztseins bei erwachsenen Opfern sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend.
Verhaltenstherapie 2011; 21: 247-253 (PDF)

Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 19.1.2015
Aktualisiert am 20.1.2022

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