Selbst schuld!

Das Kind fällt hin und die Mutter sagt: „Selbst schuld!“ Die Bergsteiger hängen in der Bergwand fest und es wird eine aufwendige Rettungsaktion gestartet. „Wieso?“, fragen viele. „Sie sind doch selbst schuld!“ Zu Beginn meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin war ich in finanzielle Not geraten. „Selbst schuld!“, sagten manche, „Du hast es ja vorher gewusst.“ Ein Arzt hat täglich mit Verletzten zu tun, die „selbst schuld“ sind an ihren Verletzungen. Wie gehen wir damit um?

Fangen wir bei der Selbstwirksamkeit an: Kleine Babys jauchzen vor Glück, wenn sie merken, dass sie mit ihren Händchen einen Hampelmann zur Bewegung bringen. Selbstwirksam sein zu können ist eines der schönsten Gefühle, die wir haben können. Wir lächeln den anderen freundlich an und er lächelt zurück. Wir merken, dass wir das Lächeln des anderen bewirkt haben und wissen doch, dass der andere ein Eigenleben hat und es auch Glück war, dass er zurückgelächelt hat. Etwas bewirken zu können, etwas machen zu können, ein Ergebnis zu sehen, das ist Glück.

Der Schreck, wenn man etwas falsch macht

Kleine Kinder schlagen manchmal aus Hilflosikgkeit reflexhaft einfach zu. Sie sind erschrocken, dass sie dem anderen wehgetan haben. Sie fühlen sich, als sei die Reaktion so schnell über sie gekommen, dass sie keine Kontrolle darüber hatten. Kleinen Kindern fehlen noch die Worte, um bedachter an die Dinge heranzugehen. Doch bei den Erwachsenen passiert oft dasselbe: Ein Wort falsch gesagt und wir würden uns am liebsten nachträglich auf die Zunge beißen. Wir bereuen, was wir bewirkt haben.

Manche Menschen leiden so sehr an dem, was sie getan und bewirkt haben, dass sie dafür mit ihrem Leben bezahlen.

Auf die Sichtweise kommt es an

Neben Müttern, die zu ihrem Kind sagen: „Selbst schuld“, wenn es sich wehgetan hat, gibt es Mütter, die eine andere Haltung haben. Sie wissen, wie weh es tun kann, wenn man aus eigenem Tun heraus sich oder anderen Schmerzen zufügt. Sie haben sich ein Kind gewünscht und wimmern vor Schmerzen, wenn sie es bekommen. „Selbst schuld – hättest ja nicht schwanger werden brauchen“, sagen manche. Andere aber wissen darum, dass man im Leben einerseits „selbst schuld“ ist, aber andererseits in seinem Tun und Planen auch nicht alles berechnen kann.

Erfahrungen können schmerzlich sein – und der Schmerz kommt oft in einer Stärke, mit der wir nicht gerechnet hätten.

Barmherzigkeit

Ich mag das Wort „Barmherzigkeit“, weil es so klingt, wie es sich anfühlt: warm und erlösend. Es ist so schön, wenn man auf Menschen trifft, die sagen: „Ich helfe Dir, damit Deine Wunden heilen.“ Niemand muss auf einen Berg steigen, eine Weltreise machen, ein Studium beginnen, ein Kind bekommen, sich in ein Flugzeug setzen. Niemand muss in Not geraten, wenn er das nicht will. Könnte man sagen. Aber dann würden wir nicht leben.

„Komm, komm, wer immer du bist,
Wanderer, Götzenanbeter,
du, der du den Abschied liebst,
es spielt keine Rolle.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Komm, auch wenn du deinen Schwur
tausendfach gebrochen hast.
Komm, komm, noch einmal, komm!“
Mevlana Jellaludin Rumi

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 17.5.2015
Aktualisiert am 16.12.2021

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