Mit den Lücken des Lebens leben
Wir haben es uns so schön vorgestellt: Wir werden eine Familie haben, Vater, Mutter, Kind sein. Wir werden ein Haus haben, einen Garten, einen Beruf, eine Arbeit. Wir werden glücklich sein. Alles wird ganz sein. Und dann kommt irgendwann die Zeit, in der wir merken: Es gibt Lücken im Leben, die schließen sich nicht. Manche Lücken haben wir selbst verursacht, andere wurden uns zugefügt oder waren schon immer da. Wir haben eine Psychoanalyse gemacht, um die innere böse Mutter doch noch gut werden zu lassen. Wir haben vielleicht eine Paartherapie gemacht und unzählige Befruchtungsversuche unternommen.
Wir haben vielleicht Krebs und alle Therapien durchprobiert. Wir bearbeiten seit Jahren unser Trauma und leiden immer noch unter furchtbaren Angstzuständen. Wir suchen einen Partner und finden ihn nicht. Wir trauern um unser verstorbenes, abwesendes oder nie bekommenes Kind. Doch niemand ist austherapiert, solange er lebt.
Wir trauern um den wichtigsten Menschen, den wir viel zu früh verloren haben. Wir suchen immer noch unsere leiblichen Eltern, haben ständig Heimweh oder keine Wurzeln. Wir haben vielleicht die Arbeit verloren, kein Geld, scheinbar keine Perspektive mehr. Wir stecken im Rechtsstreit. Ein anderer tut uns Unrecht. Kurz vor dem Ziel mussten wir gehen.
Aus unseren größten Lücken und Sehnsüchten erwächst unsere größte Schaffenskraft.
Anders als bei anderen
Wir haben ein behindertes Kind und verbringen unser Leben damit, dieses Schicksal zu managen. Durch den Fehler eines Arztes oder einer Hebamme ist Schreckliches bei der Geburt passiert. Hätten wir nicht dieses oder jenes gesagt oder getan, so wäre unser Partner bei uns geblieben. Hätten wir uns nicht gewehrt, hätten wir ein Kind von unserer großen Liebe bekommen. Hätten wir auf die medizinische Behandlung verzichtet, wären wir heute gesund. Und so weiter und so weiter.
Immer mehr Unauflösliches
Je länger das Leben verläuft, desto mehr Lücken kommen hinzu. Manchmal wachsen Moos und Gras darüber. Manchmal scheint die Hoffnung zu schwinden. Manchmal geben wir auf. Was wir nicht getan haben, wiegt schwerer als das, was wir taten, meinen wir. Schuldgefühle plagen uns, weil wir Dinge getan oder gelassen haben, die wir nie wieder gutmachen können.
Sigmund Freud beschrieb in seinem Beitrag „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930, Projekt Gutenberg), dass Leiden aus drei Quellen herrühren kann: aus unserem Körper, aus der Umwelt und aus unseren Beziehungen. Immer mehr Leid erfahren wir, je älter wir werden und vieles gleicht immer noch dem ersten Schmerz, den wir spürten, als wir unser erstes rotes Förmchen im Sandkasten verloren. Untröstlich waren wir.
Vielleicht doch noch, oder nie mehr?
Ein furchtbarer Schmerz machte sich uns bekannt: Der Schmerz des Sich-nie-Wieder-Veränderns, des Nie-Wieder-Gut-Werdens, des Auf-Nimmer-Wiedersehens. Und doch hat sich vielleicht etwas Entscheidendes verändert: Wir spüren die Lücken bewusst.
Dachten wir als Kind noch, dass es uns zerreißt, wenn das Kaninchen stirbt, so ist uns jetzt der Schmerz bekannt. Wir wissen, was wir da fühlen. Doch jeder Schmerz, jede Situation ist neu. Werden wir es auch jetzt überleben? Ist das Ende abzusehen, fragen wir uns: Können wir es gestalten und wenn ja: Wie wollen wir es gestalten? Manchmal bleibt einem nichts mehr, außer sich dem eigenen Atem hinzugeben.
In unserem Herzen
Wir kennen das. Aber unser Herz ist nicht mehr so klein. Es hat sich geweitet. Wir kennen immer mehr liebe Menschen, die bereits verstorben sind. Sie haben einen Platz in unserem Herzen gefunden. Der Abstand zwischen Himmel und Erde ist kleiner geworden. Wir wissen, dass nicht immer alles rund sein kann. Das auszuhalten, dass da etwas unauflöslich ist, dass da Fragen sind, die wir nicht beantworten können, dass da tiefe Kerben sind, die da bleiben wie Schluchten im Gebirge, das ist die Kunst.
Aus Ohnmacht wird Demut. Eine Haltung.
Wie fühlt sich unsere Lücke an? Grässlich, wir wollen weglaufen. Aber wenn wir stehenbleiben und nachspüren, dann fühlen wir die Kerbe. Kein lösungsorientierter Ansatz kann hier kitten. Wir wollen was machen, was tun. Und doch ist es oft das Wirksamste, stehenzubleiben, nichts zu tun, hineinzuschauen und zu fühlen, wie sich die Wände der Schlucht anfühlen.
Der blinde Bergsteiger Andy Holzer sagte einmal, dass er es leichter findet, sich am Berg zu orientieren als auf gerader Straße, denn am Berg kann er auf allen Vieren gehen, die Steine spüren und wenn er Steinchen dort hinunterschmeißt, dann weiß er, wie hoch er gekommen ist.
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Dieser Beitrag wurde erstmals am 30.10.2015 veröffentlicht.
Aktualisiert am 14.7.2023
5 thoughts on “Mit den Lücken des Lebens leben”
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Liebe annimal,
vielen Dank für Ihre Worte. Ihnen ein gutes Neues Jahr!
Herzliche Grüße, Dunja Voos
Hallo Frau Voos, den Artikel finde ich sehr berührend, traurig und tröstlich zugleich… liebe Grüße Anna
Liebe Sila,
ich weiß, die Antworten auf Kommentare wie Ihren können immer nur irgendwie unbefriedigend ausfallen.
Dennoch:
ganz herzlichen Dank für Ihre Worte.
Alle guten Wünsche!
Dunja Voos
Liebe Frau Voos,
lieben Dank für diesen wundervollen Text. Ich fühle mich seit langer Zeit dadurch sehr getröstet.
Jemand hat vor noch nicht langer Zeit mein Leben als eine “ Anhäufung von Schrecklichkeiten “ bezeichnet.
Dank Ihrer wundervollen Website habe ich gelernt, daß mein Leben ganz „normal“ ist.
Leid, Tod und Schrecklichkeiten gehören nunmal zu jedem Leben dazu, Gute und weniger gute Zeiten wechseln sich ab und das Leben ist ein ständiges Auf und Ab.
Es wird leichter wenn ich versuche die Wellenbewegungen mitzugehen und mich nicht dagegen zu
wehren.
Meine Familie und ich haben dieses Jahr sieben Familienmitglieder durch den Tod verloren.
Wir waren wie betäubt durch Schmerz und Trauer.
Es geht weiter…..und jeden Tag geht die Sonne wieder auf und auch wieder unter….
Lieben Dank und herzlichste Grüße von Sila
Liebe Frau Dr. Voos,
ein guter Artikel, danke. Während dem Lesen kam etwas anderes in mir auf. Ich habe mich gefragt, was bedeutet es, wenn ich wiederholt etwas schmerzliches erlebt habe, wie das hilflose Schreien von Kindern oder das Sterben und dann eines Tages bemerke ich, dass es wieder geschehen ist und ich fühle nichts mehr dabei, einfach nichts, keine Trauer, kein Schmerz, keine Hilflosigkeit. Ich dachte eher etwas genervt und angeödet sowas wie… „Schon wieder, passiert halt.“ und wenn Jemand bemerkte wie es mir ging, waren die Menschen oft ratlos gegenüber meiner Unberührtheit und ich dachte… Ich versteh sie schon, aber auch mich, ich kann mir doch nicht dauernd die Augen aus weinen, wieder und wieder und ich war der Dinge auch überdrüssig.Ich war es müde.
Heute als Erwachsene kann ich sagen, dass sich das auf bestimmte sich wiederholend Dinge bezog und ich im Allgemeinen nicht so denke öder fühle. Manchmal stellt es sich noch ein, dann bemerke ich es sofort und kann auch damit umgehen. Aber mich interessiert, was Sie dazu sagen würden.
Liebe Grüße,
Kate