24 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Schweigen lernen

Eine Psychoanalytikerin sitzt mit geschlossenen Augen und angezogenen Beinen schweigend hinter der Patientin, die auf der Couch liegend erzählt. Bild Nr. 354 von Dunja Voos

„Psychoanalytiker werden dafür bezahlt, dass sie nichts sagen“, heißt es. „Manchmal frage ich mich, warum ich dahin gehe – der sagt ja gar nichts“, sagt ein Patient. „Sie können das Schweigen nicht aushalten“, sagt der Supervisor. „Ich bin so froh, dass Sie gerade nichts sagen“, sagt eine Analysandin tief berührt. Schweigen und dem Schweigen ausgesetzt zu sein, ist immer anders. Es gibt desinteressiertes, gelangweiltes, interessiertes, haltendes, nachdenkliches, beschwingtes, friedliches Schweigen und viele Arten mehr. Manchmal ist vom Analytiker oder vom Patienten rein gar nichts zu hören. Manchmal hört man, wie sich einer der beiden über Pulli, Hose oder Gesicht streicht. Einen Augenblick später hört man den Atem.

Oft ist der schweigende Psychoanalytiker im Zustand der „freischwebenden Aufmerksamkeit“. Die Psychoanalytikerin Evelyne Sechaud beschreibt, was dann passiert (Konferenz der Europäischen Psychoanalytische Föderation, EPF 2015): „Dieses Schweigen ist ein Schweigen des Sich-Öffnens für das Unerwartete, ja, für das Unbekannte. Es geht darum, sich von dem, was der Patient sagt, von allem, was vom Patienten kommt, durchdringen zu lassen. Dies schließt Worte ein, Sprachhandeln (Anmerkung Voos: z.B. Beschimpfung), Stimme, Affekte, körperliche Eindrücke, all diese anziehenden, verführerischen und/oder abstoßenden Aspekte. Das Schweigen ermöglicht es dem Analytiker, dem Strom der Assoziationen über die Umwege des Gesagten nachzuspüren, die Vorstellungen und Affekte zu entwirren und sie in ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Konstruktionen neu zu verbinden.“ (Sechaud, Evelyne, EPF 2015)

Unwohlsein beim Schweigen

Schweigen kann einen Patienten oder Analytiker in Spannung versetzen. Es ist für viele gerade am Anfang der Analyse ungewohnt, schweigend beieinander zu sein. Ungewollte Phantasien können sich im Schweigen breit machen. Manchmal kann das Schweigen unerträglich werden. Doch im Grunde kann man sich darauf verlassen, dass das Störende und Ungewollte, dass einem in der Analyse einfällt, sinnvoll ist und mit der Beziehung zu sich selbst, zum Therapeuten und zur Welt zu tun hat. Es erfordert oft viel Mut, die Gedanken der Stille nicht wegzuwischen, sondern sie ernstzunehmen, sie vielleicht auszusprechen oder innerlich zur Weiterarbeit zu nutzen.

Als Patient können wir das Schweigen besonders dann als problematisch erleben, wenn wir zum Beispiel eine „stumme“, depressive Mutter hatten oder wenn wir durch Schweigen gestraft wurden. Wir fühlen uns vielleicht sogar so, wie wir uns als Baby fühlten, wenn uns die Mutter stundenlang schreien liess. Vielleicht entstehen in den Schweigeminuten aber auch erotische Spannungen oder gewaltsame Phantasien. Im Schweigen kann sich das Unbewusste breitmachen. Die Realität rückt in die Ferne, die Phantasien blühen auf.

Sich im Schweigen verstanden fühlen

Wenn der Analytiker schweigt, ist er meistens dennoch präsent. Der Patient kann das häufig spüren und fühlt sich dabei vielleicht gehalten. Oft ist der Patient auch erleichtert, dass der Analytiker gerade jetzt nichts sagt – zu sehr sind die Gefühle oder Erinnerungen so, dass jedes Wort die Situation nur zerstören würde. Durch das Schweigen kann man sich als Patient zutiefst verstanden fühlen. Das Schweigen kann jedoch auch wütend machen. Der Analytiker kann das Schweigen dosieren und es dazu nutzen, dass sich ein Gefühl oder eine Szene breit macht, die dann gespürt, beobachtet, begriffen und verstanden werden kann.

„Der Rest ist Schweigen.“ Die letzten Worte Hamlets vor seinem Tod.

Aktives Schweigen

Das Schweigen des Analytikers kann passiv und hilflos, jedoch durchaus auch aktiv und produktiv sein. Der Psychoanalytiker Jannis S. Kontos (DPV) setzt in einem speziellen Sinne „aktives Schweigen“ bei „lebend-toten Patienten“ ein (EFP-Konferenz 2015, S. 89 ff). Er schreibt:

„Was wir in der Analyse beabsichtigen, ist die mütterliche emotionale Abwesenheit präsent werden zu lassen. … Ziel ist, die Patienten den namenlosen Terror wieder erleben zu lassen, so dass er Name, Inhalt und Sinn bekommen kann. … Das Schweigen ist in dem Sinne aktiv, wie Bion (1970) die aktive Haltung „without memory and desire“ beschreibt. … Diese Abwesenheit von Worten darf jedoch nicht als fehlgeschlagene Kommunikation missverstanden werden. Vielmehr könnte man diese spezifische Form des Schweigens als ein Übergangsphänomen bezeichnen, als eine Art von Zufluchtsort vor dem unerträglichen Andrang der Fantasie … (Gellman 2012) …
Man könnte also sagen, die Zeit der Stille repräsentiert … eine Zeit, die beiden … eine Atem- bzw. Erholungspause gewährt von der bisweilen besorgniserregenden Nähe und unerbittlichen Intimität im Rahmen des analytischen Settings. …
Das aktive Schweigen des Analytikers bedeutet für diese Patientinnen seine emotionale Abwesenheit. Sie ist durch die unaufhörlichen psychischen Schmerzen präsent, welche diese emotionale Abwesenheit verursacht. Anders ausgedrückt, wenn in der Übertragung der psychische Schmerz und der namenlose Terror durch die ‚Abwesenheit‘ des Analytikers vorherrschen, dann wird seine Abwesenheit präsent und erst dann … ist das Wiederaufleben des archaischen Traumas möglich (S. 91).“

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Links:

Raul Paramo-Ortega (1967):
Einige Bemerkungen über das Schweigen des Analytikers
Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie
1967, Jg. 15, H. 3/4 S. 247-252 PDF

Sechaud, Evelyne:
Das Schweigen des Psychoanalytikers
EPF-Konferenz 2015: S. 71-74
www.epf-fep.eu

Sechaud, Evelyne (2018):
The silence of the psychoanalyst
In Revue francaise de psychanalyse Volume 82, Issue 1, 2018, pages 89 to 97
https://www.cairn-int.info/article-E_RFP_821_0089–the-silence-of-the-psychoanalyst.htm

„sie schreien es hinaus, indem sie schweigen“
„cum tacent, clamant“
cicero: In Catilinam oratui 1,21
hubertus kudla: lexikon der lateinischen zitate, zitat 2532, verlag c.h. beck, ohne datum

Dieser Beitrag erschien erstmals am 13.5.2014
Aktualisiert am 9.9.2024

One thought on “24 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Schweigen lernen

  1. Fips sagt:

    Wenn sich da die ganze Therapeutenriege mal nicht in was verrannt hält, wenn sie das Schweigen weiterhin für sich berechtigen, während Patienten das oft ganz anders erleben. Nehmt deren Rückmeldungen dazu ernst, die feinste Begründungstheorie bringt nichts, wenn sie in der Praxis kontraproduktiv wirkt. Und das tut sie in – meiner Erfahrung nach mit den Rückmeldungen, die ich erfuhr – häufig.

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