Ich stehle mich davon
Die Luft ist rein, der Augenblick scheint wie für mich gemacht. Perfekt. Ich kann mich davonstehlen. Ich habe ein kleines Zeitfensterchen entdeckt, einen kurzen Moment, in dem sie nicht aufpasst. Ich bin schon durch den Türspalt. Ich rieche die Freiheit – gleich da vorne ist sie. Ich tue den ersten Schritt, dann den zweiten. Ich fühle mich etwas sicherer. Großartig. Die Beine finden Halt, ich kann gehen.
Doch wie aus dem Nichts ist sie da. Wie ein Löwe seine Beute am Hinterteil, so hat sie mich gepackt. Ich laufe noch etwas weiter, doch es hat keinen Zweck. Sie hält mich fest. Ich spüre ihr kräftiges Gebiss. Sie reißt mich nieder, ich falle zu Boden, werde mitgeschliffen von mir selbst. Ich verliere das Bewusstsein und handele unbewusst in meiner Traumwelt. Ob ich jemals wieder aufwachen werde, ist die Frage.
Kommentar
Wer eine übermächtige Mutter hatte, ist ständig auf der Hut. Wer schon als Baby oder Kleinkind Gewalt erfahren hat, der lebte nur von Augenblick zu Augenblick: Da gab es die Qualen alle paar Stunden und die trügerische Freiheit dazwischen. Wer das erlebt hat, der erlebt den anderen immer wieder als quälenden Festhalter, der kann sich kaum vorstellen, dass der andere einen in Wirklichkeit gar nicht festhält – dass man mit dem anderen sprechen kann, dass er nicht vorhat, einen zu packen. Jeder Tag ist es derselbe Kampf von vorne.
Was das Opfer dann als Erwachsener oft ausblendet, ist die eigene innere Kraft. Er ist nicht das arme gute Reh und der andere ist nicht der böse Löwe. Auch das ehemalige Opfer ist als Erwachsener mitunter verletzend. Das zu erkennen, ist erschreckend, beschämend und befreiend zugleich.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 10.12.2019
Aktualisiert am 4.5.2023