89 Wie werde ich Psychotherapeut*in/Psychoanalytiker*in? Die negative Rolle annehmen

Wir kommen im Alltag oft in die Position, uns rechtfertigen zu wollen: „Aber das habe ich doch gar nicht so gesagt!“ Sätze wie diese sind in der Psychoanalyse meistens nicht so sinnvoll. Hier geht es darum, dass der Patient Altbekanntes neu erlebt. Der Patient stellt mit dem Analytiker unbewusst und wie automatisch Situationen her, unter denen der/die Patient*in schon immer gelitten hat. „Es ist wie immer!“, sagt der Patient zum Analytiker. „Sie sind genau so schlimm wie alle anderen!“ Und dann? „Wie soll man denn dem Patienten eine neue Erfahrung ermöglichen, wenn man die alte wiederherstellt?“, fragst Du Dich vielleicht – haben wir doch die Vorstellung, dass sich dann alte Spuren im Gehirn nur noch fester einfahren.

„Sie haben mich total ungerecht behandelt letzte Stunde, so richtig von oben herab!“, sagt die Patientin. Wenn wir sowas als Therapeut*in hören, fühlen wir uns vielleicht schuldig, ertappt oder erkannt, weil wir vielleicht tatsächlich ungerecht oder arrogant waren. Vielleicht aber erkennen wir das, was uns die Patientin vorwirft, auch gar nicht wieder, weil wir uns selbst ganz anders erlebt haben.

Nicht so rasch zum Konkreten übergehen

Gerade zu Beginn der Ausbildung ist die Versuchung groß, negatives Erleben des Patienten sofort mit konkreten Erklärungen korrigieren zu wollen. Man verhält sich vielleicht besonders nett oder erklärt nochmal, wie es denn „wirklich“ war. Man möchte, dass der Patient einen als „die bessere Mutter“ erlebt und versucht, in diese Richtung zu schiffen. Doch oft ist es wichtiger, erst einmal das anzuschauen, was der Patient da sagt und was sich in der Beziehung zwischen Patient und Therapeut entspinnt. Wir spüren vielleicht, wie wir nun langsam aber sicher in die Rolle des „Bösen“ geraten. Bald können wir dem Patienten nichts mehr recht machen. Wichtig ist es hier, innerlich Raum zu schaffen und zu beobachten, was da passiert. Mit der Zeit lassen sich wahrscheinlich Zusammenhänge zwischen den verschiedenen unangenehmen Situationen und den bisherigen Erfahrungen des Patienten herstellen.

Das Unangenehme, das auftaucht, kann auch als Vertrauensbeweis verstanden werden.

Es kann für den Patienten wichtig sein, dass der Analytiker die Rolle annimmt, die der Patient an ihn heranträgt, denn so kommt das Vergangene hier und jetzt in den Therapieraum. Vielleicht erlebt der Patient den Therapeuten als Angreifer. Wenn der Therapeut dieses Erleben verbalisiert, kann sich im Patienten etwas bewegen. Wir sagen vielleicht so etwas wie: „Jetzt bin ich also derjenige, der Sie angreift.“
Dieses Konzept des Eingehens auf die Rolle, die der Patient dem Analytiker zuschreibt, nannte der Psychoanalytiker Joseph Sandler „Role Responsiveness“ (Sandler, J, 1976: Countertransference and Role-Responsiveness. International Review of Psycho-Analysis, 3(1): 43-47). Eine ähnliche Idee steckt in der Interpersonal Discrimination Exercise (IDE) im kognitiv-behavioralen Analysesystem (CBASP) nach James McCullough.

Der Patient berührt den Analytiker

Es ist noch relativ leicht, die böse Rolle der Mutter des Patienten anzunehmen, wenn man sich selbst anders fühlt. Wenn der Patient sagt: „Sie helfen mir ja nie!“, kann der Analytiker das relativ gut ertragen, wenn er selbst das Gefühl hat, in Wirklichkeit hilfreich zu sein. Schwierig kann es jedoch werden, wenn wir uns durch und durch so fühlen, wie es uns der Patient vorwirft. Was, wenn wir morgens wirklich denken: „Ich kann diesem Patienten nicht helfen – ich will ihn auch gar nicht haben.“ Diese Echtheit dieser Gefühle kann uns ganz schön bedrängen – sie liefert uns aber auch eine sichere Basis.

Vielleicht ist uns die Patientin ganz real (wieder) unsympathisch geworden, vielleicht haben wir aber auch die Rolle der Mutter der Patientin angenommen. Möglicherweise hatte die Mutter damals ihr Kind tatsächlich überwiegend abgelehnt. Wir haben uns dann mit der Mutter der Patientin identifiziert. Diese Erkenntnis bringt Abstand in unser eigenes Erleben und ermöglicht es uns, uns freier zu bewegen.

Manchmal geht es um mehr als nur um eine angenommene Rolle. Vielleicht spüren wir, dass wir quasi ganz eingetaucht sind in unser Erleben und in die „real aufgeheizte“ Beziehung zum Patienten. Innerlich beweglich zu bleiben und über das Geschehen weiter nachzudenken, ist dann oft besonders schwierig. Selbstzweifel und Verwirrung können uns das Leben als Therapeut*in/Analytiker*in sehr erschweren – meistens wird dieses Spiel aus Verstrickung und Entwicklung leichter, je älter wir als Therapeut*in/Analytiker*in werden.

Zum Greifen nah

Endlich kann also das Vergangene betrachtet und ganz deutlich gespürt werden, sobald wir als Therapeut*in/Analytiker*in in die Rolle der „Bösen“ geraten sind. Es kann in dieser Zeit sein, dass uns tatsächlich Fehler unterlaufen, auf die uns unsere Patientin real festnageln kann. Es kann aber auch sein, dass sich die Patientin irgendwie beruhigt fühlt, weil sie in bekanntes Fahrwasser gerät. Wir können unsere Patienten leicht als lästig oder abstoßend empfinden. Unsere Gegenübertragungsgefühle helfen uns jedoch zu verstehen, was mit dem Patienten los ist und wie sich dessen Beziehung zu Mutter oder Vater (zu den primären Bezugspersonen) möglicherweise gestaltete.

Wenn wir uns die Situation erklären können, geht es uns besser. Wir empfinden vielleicht wieder Zuneigung zum Patienten, auch während der uns beschimpft, belagert oder einengen will. Mit innerem Abstand ist es leichter, die Rolle des Bösen anzunehmen. Es wird dann mehr wie ein „Spiel“, das für den Patienten sehr ernst ist, doch von wo aus wir als Therapeuten vielleicht schon eine Lösung erkennen können.

Manche Situation lassen an eine „Übertragungspsychose“ denken – das heißt, der Patient ist schwer davon überzeugt, dass das, was er in Bezug zum Analytiker denkt und fühlt, vollkommen wahr ist. Als Analytiker kann es einem so vorkommen, als säße man am Bett eines fiebernden Kindes, das durch seine Fieberphantasien geht. Man kann manchmal nur hoffen und abwarten, dass dieses (Übertragungs-)Fieber wieder nachlässt.

Wo stehen wir?

Es gibt viele verschiedene Formen der „Rollen-Annahme“. Wir sind gefordert, die Affekte des Patienten mitzuverdauen und mit dem Patienten danach zu suchen, worauf sich seine Affekte „wirklich“ beziehen. Wir können uns fragen: Geht es hier um die Real-Beziehung, ist es eine Mutter-Übertragung, ist es eine negative therapeutische Reaktion oder eine „maligne Regression“? Viele Begriffe beunruhigen nur und halten einen von der Arbeit ab. In der Psychoanalyse ist es mitunter wichtig, den Dingen nicht zu früh einen Namen zu geben, um weiterarbeiten zu können.

Es gibt Situationen, die der Analytiker und der Patient nicht „überleben“, das heißt, die negative Übertragung kann so stark werden, dass der Patient die Behandlung abbricht oder der Analytiker die Behandlung beendet. Im Laufe des Berufslebens lernen wir, dass es Kräfte gibt, die größer sind als wir. Doch wohl die meisten Schwierigkeiten können durch eine gute Supervision und die eigene Lehranalyse zur Weiterentwicklung führen.

Bleibt der Patient?

Angehende Analytiker und Analytikerinnen haben häufig die Sorge, die Patientin könnte die Behandlung abbrechen. So lassen sie sich dazu verleiten, immer wieder in „gutes, warmherziges Fahrwasser“ zu finden. Man bemerkt bald: Es ist äußerst schwierig, das richtige Maß zu finden. Wann konfrontiere ich den Patienten mit der Wirklichkeit? Möchte ich ihn vielleicht zur Einsicht drängen? Kann ich die Situation halten oder fühle ich mich selbst klein, hilflos und überfordert? Dürfen sich die negativen Gefühle weiter ausbreiten, damit sie verstanden werden können?

Viele Fragen hängen auch vom Zeitpunkt der Stunde ab: In der Mitte einer Sitzung oder eines langen Behandlungsabschnitts kann man eher Unangenehmes aufkommen lassen als gegen Ende der Stunde, vor dem Wochenende oder vor einer Ferienpause.

Schon in der Falle oder noch davor?

Gut fühlt es sich an, wenn man spürt: Da ist eine negative Übertragung im Gange, der Patient fühlt sich bei mir wieder so, wie er sich zu Hause bei seinen Eltern fühlte, aber da ist ein Abstand, eine „Ich-Spaltung„. Ich und der Patient können das Negative erleben, aber es läuft sozusagen eine zweite Spur mit, die beide gewahr werden lässt, dass es sich auch um eine Art „Schau-Spiel“ handelt. Das negative Erleben ist zwar da, aber zunehmend handhabbar.

Je nachdem, welche persönlichen Erfahrungen der/die Psychoanalytiker*in gemacht hat oder wie mächtig der Patient ist, kann auch der Analytiker das Geschehen phasenweise als überwältigend erleben. Doch wichtig ist es, zurückzufinden zur Mitte, zur „analytischen Position“. Dies beschreibt der Psychoanalytiker Salman Akhtar wunderbar in seinem Youtube-Video „Master Clinicians and Theologians in Dialogue“.

Überwältigung

Der Patient hingegen kann sich auch längerfristig immer wieder überwältigt fühlen – deswegen kommt er ja zur Psychoanalyse. Und hier fängt dann die Arbeit an – sie besteht aus vielen Elementen wie z.B. Dasein, Zuhören, Verstehen, Erforschen, Zusammenhänge herstellen, Sinn erkennen, Gefühle entstehen und sich ausbreiten lassen, Deuten, Halten, Verdauen und „Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten“ (so nannte es Freud). Es kann sehr erleichternd sein, wenn man feststellt, dass die negative Übertragung, die vielleicht schon von Anfang an da war, endlich offen Einzug hält. Insbesondere in einer vierstündigen Analyse könne man dem Hass nur selten weglaufen, höre ich in der Ausbildung. Das kann sehr hart werden und manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als das unangenehme Geschehen eine ganze Weile lang geschehen zu lassen, es zu beobachten, zu beschreiben und mit anderen Kandidaten und Dozenten zu besprechen. Es ist immer interessant, zu sehen, wie lange etwas stagnieren kann, bevor es sich dann doch wieder weiterentwickelt.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 6.7.2019
Aktualisiert am 19.7.2022

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One thought on “89 Wie werde ich Psychotherapeut*in/Psychoanalytiker*in? Die negative Rolle annehmen

  1. Anonym sagt:

    Ein Psychoanalytiker ist auch nur ein Mensch, der auch viele Fehler machen kann oder dem im Laufe von z.B. 40 Jahren Therapeutendasein ursprünglich vorhandene Kompetenzen vielleicht abhanden gekommen sind.

    Meinen Therapeuten/Analytiker haben weder meine Gefühle noch meine Kritik erreicht. Als wenn ihm über die Jahrzehnte eine ganz dicke Schutzhaut gewachsen wäre. Eine wirkliche Therapie hat gar nicht richtig begonnen; seine Lehranalyse lag schon sehr lange zurück. Auf meine Frage zu Supervision antwortete er, dass sein über 70-jähriger Supervisor im vergangenen Jahr krank gewesen sei.
    Unsere Welt ist oft nicht so, wie sie eigentlich sein sollte …

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