Hass durch Frühtraumatisierung
Es ist immer wieder dieser selbe Hass. Als Kind schwer beschädigt, merkt man den Schaden besonders bewusst, wenn man genau das bräuchte, was beschädigt wurde. Manche Beschnittene sagen, dass die Beschneidung ihnen die Lust gemindert hat. Manche Misshandelte merken, dass die Misshandlung ihnen vielleicht die Fähigkeit genommen hat, sich berühren zu lassen, sich zu binden, einen Partner zu finden, vielleicht eine Familie zu gründen, ein Kind zu bekommen. Häufig ist von Menschen zu lesen, die es sehr schwer hatten. Doch bei genauerem Hinsehen steht dort dann: „Verheiratet, drei Kinder.“ Das heißt, dass es diesen Menschen zumindest gelungen ist, eine Beziehung aufzubauen. Wer an diesem Punkt „behindert“ ist, der hat es doch noch viel schwerer, oder? Dann lese ich von einem Suizid. Der Mann war verheiratet und hatte vier Kinder. Wer will ermessen, was ein „sehr schweres Leiden“ ist?
Hilfos zuschauen
Das Leben rast vorbei. Klappen tut es bei den anderen. Man selbst sitzt auf seinem Müll. Die Täter bleiben ungestraft und ohne Einsicht. Die Heilung schreitet zu langsam voran, um noch einige wichtige Wünsche erfüllen zu können. Und dann kommt dieser Hass auf. Immer wieder. Man möchte Bomben werfen – in alle Vorgärten. Man möchte die Täter, die Eltern töten – zwar müsste man Strafe und Gefängnis erdulden, doch fände man wenigstens Ruhe und Frieden, so die Vorstellung.
Leid könnte man noch ertragen, wenn man wenigstens jemanden an seiner Seite hätte, der das Leid mitträgt. Doch wer misshandelt wurde, erscheint wie zur Einsamkeit verdammt.
Man wartet auf Wiedergutmachung, auf Anerkennung des Leids. Wenn man sie bekommt, kann das sehr heilsam sein – oder aber auch ernüchternd. Viele warten vergebens – wie aus meiner Sicht zum Beispiel die unzähligen Opfer der frühen Vojta-Therapie. Doch immer wieder merkt man: Der Hass bringt nichts. Er blockiert. Er blockiert das weitere Leben. „Soll ich jetzt noch den Hass ablegen?“, fragt man sich. „Was würde das bringen? Ist jetzt nicht schon alles zu spät?“
Man will irgendwie am Hass festhalten, weil man das Gefühl hat, dieses Festhalten würde irgendetwas nutzen. Ob diese Vorstellung trügerisch ist oder ob der Hass tatsächlich nutzt, findet nur jeder für sich heraus.
Konstruktiv werden? Ich bin noch nicht fertig mit hassen.
Wenn morgen die Welt unterginge und man am Ende des Lebens stünde, so würde es sich doch lohnen, den Hass loszulassen, oder? Aber kann man sich überhaupt gegen Gefühle entscheiden und diese abstellen? Manchmal ja. „Ich will nicht länger wütend oder neidisch sein“, können wir mitunter beschließen. Teilweise ist es ein Verdrängen, teilweise ein Transformieren. Hass liegt so nah an der Liebe, dass sich das nutzen lässt. Wir können die gewaltigen Kräfte, die im Hass gebunden sind, in Tatkraft umlenken, in neue Projekte, in Kreativität oder auch in Stille. Wir können unserem Hass lauschen. Er ist da. Er hat seinen Sinn. Er bewegt uns.
Der Stein namens „Hass“, namens „Beschädigung“, steht da wie ein Fels in der Brandung. Wir können nur davor niederknien, darüber verzweifeln, ihn umschiffen, ihn beklettern, ihn behauen. Und doch bleibt er auf gewisse Weise da.
Über Hass sprechen heißt, ihn zu verdauen
Wenn dem Baum ein Hauptast abgeschlagen wurde, wachsen viele Nebenäste nach, aber eben nicht dieser Hauptast. Doch können wir Psychisches auf diese Weise mit Materiellem vergleichen? Nach welchen Bildern wir auch immer suchen: Der Hass lässt sich nur schwer verdauen, weil das Geschehene kaum verdaubar ist. Doch darüber zu sprechen, ist ein bisschen wie verdauen. Den Hass zu fühlen und darüber zu sprechen kann ein wichtiger Weg zur Heilung sein.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 12.2.19
Aktualisiert am 7.8.2023