Unbewusste Phantasien zeigen sich auch in den Fehlern, die wir machen

„Kinder entstehen durch Essen“, phantasieren manche kleinen Kinder. Diese Phantasie entsteht schon, bevor die Kinder sie in Worte fassen können. Frühkindliche und unbewusste Phantasien sind unser Leben lang vorhanden. Kleine Babys spüren, was in ihrem Körper passiert und entwickeln darauf hin wahrscheinlich Phantasien. Diese Phantasien entstehen aus der Wahrnehmung, aus dem Fühlen (englisch: Sensation) heraus. Unbewusste Phantasien werden auch in unseren Fehlern deutlich. In einer Quizshow (Gefragt, Gejagt, 26.9.2023) wurde eine Kandidatin gefragt, wo im Körper sich „Otolithen“ befinden. Sie kannte den Begriff (Steinchen im Ohr) nicht und musste raten: „In der Lunge?“ Der „Fehler“ war nicht sinnlos: Möglicherweise hatte die Kandidatin an das „O2“ des Sauerstoffs gedacht.

Psychoanalytiker sprechen bei der Entwicklung der Phantasien von einer „genetischen Kontinuität“. Ähnlich wie das Kind seine motorischen Fähigkeiten, sein logisches Denken und die Sprache entwickelt, so entwickeln sich auch die Phantasien kontinuierlich. Sie verändern sich besonders während der Entwicklungskrisen, also beim Laufen- und Sprechenlernen, in der Pubertät, in der Schwangerschaft, in den Wechseljahren usw.

Phantasie: Formen aus Gefühltem, Gesehenem und Gehörtem

Babys fühlen zunächst hauptsächlich mit der Haut und erkunden die Welt mit dem Mund. Sie nehmen Formen, Geschmack und Konsistenz wahr. Daraus entstehen innere Bilder. Die Finger ersetzen späterhin den Mund in seiner Funktion: Wir betasten die Dinge und bekommen dadurch eine genaue Vorstellung davon. Sobald das Sehen die Führung übernimmt, spielen konkretere Bilder in unserer Phantasie eine große Rolle. Interessant wäre es hier einmal, die unbewussten Phantasien Blinder mit denen von Sehenden abzugleichen.

Die Welt der Phantasien verändert sich ständig. Aus „unreifen“ Phantasien werden mit der Zeit realitätsnähere Phantasien und Vorstellungen. Die Phantasien verändern sich auch mit dem Alter: Phantasien über die Menopause unterscheiden sich von den Phantasien über die erste Menstruation.
Zum Teil bleiben unbewusste Phantasien jedoch auch in ihrer ursprünglichen Form bestehen. Diese Phantasien sind so, wie sie in der Kinderzeit waren. Unsere Träume und unsere Faszination an Filmen weisen darauf hin. Ein klassisches Beispiel ist die Phantasie vom „Alien“, der aus dem Bauch schlüpft, wie im Film „Alien“ dargestellt. Auch klassische Verhörer wie „Der weiße Neger Wumbaba“ (= „der weiße Nebel wunderbar“ aus „Der Mond ist aufgegangen“) gehen mit unbewussten Phantasien Hand in Hand (siehe: Axel Hacke und Michael Sowa, 2004, Kunstmann-Verlag).

Die Psychoanalytikerin Susan Isaacs (1885-1948) beschreibt in ihrem Beitrag „The Nature and Function of Phantasy“, wie unbewusste Phantasien möglicherweise entstehen und wie sie uns begleiten (International Journal of Psycho-Analysis 1948, 29: 73-97, PDF). Die Historikerin Bonnie Evans schreibt: „As Isaacs put it: ‘Phantasy is the mental corollary, the psychic representative of instinct … Every impulse, every feeling, every mode of defence is expressed and experienced in such a specific phantasy …“ (Evans, Bonnie, 2017: The first autism controversies, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK436848/)
Frei übersetzt von Voos: „Wie Isaacs es erklärt hat: ‚Die Phantasie ist die mentale Folge, der psychische Stellvertreter des Triebs … Jeder Impuls, jedes Gefühl, jede Art von Abwehr wird in einer spezifischen Phantasie ausgedrückt und erlebt …“

Unbewusste Phantasien könnten insbesondere in Psychoanalysen offensichtlich werden, so Isaacs, denn der Psychoanalytiker beachtet die kleinsten Details und auch den Kontext der Erzählungen seiner Patienten.

In der Übertragung zum Analytiker werden alte Ängste, liebevolle frühe Wünsche, aggressive Impulse und eine Fülle von Emotionen geweckt. Manchmal sagt der Patient sowas wie: „Ich habe Angst vor Ihnen, aber ich weiß gar nicht, wieso.“ Die Angst wird häufig durch unbewusste Phantasien ausgelöst, z.B. wenn der Patient – zunächst unbewusst – befürchtet, der Analytiker könnte sich ihm emotional genauso entziehen, wie die Mutter es damals tat. Dies würde zu schrecklichen Verlassenheitsgefühlen und auch Wut führen.

Phantasien sind der Hauptinhalt der unbewussten Welt

Sigmund Freud sagte, dass alles, was bewusst wird, einen unbewussten Vorgang als Vorgänger hat. Nur unter bestimmten Umständen würden unbewusste Prozesse bewusst, so Freud (1932, S. 80 in Isaacs‘ Artikel). Was Freud als „Es“ bezeichnete, stehe in direktem Kontakt mit den körperlichen Vorgängen.

Aus den körperlichen Vorgängen entstehen Phantasien. Gefühle der Spannung, des Mangels und des Überflusses im Körperinneren können genauso zu Phantasien führen wie Außenreize (Geräusche, Berührungen, Bilder etc.).

Die unbewusste Phantasie ist die mentale Ausdruck des Triebs

Es gebe keinen Impuls, keine Drangsal, keine instinktive Antwort, die nicht als unbewusste Phantasie erlebt werde, so Isaacs (S. 80). Die unbewusste Phantasie sei eine Art Brücke zwischen den ursprünglichen (körperlichen) Zuständen und den ausgearbeiteten bewussten psychischen Abläufen.

Die unbewusste Phantasie sei die psychische Repräsentation des Triebs, so Isaacs (S. 80). In der unbewussten Phantasie spiegelten sich Wünsche, aber auch Ängste, Aggressionen und Abwehrvorgänge wider.

Die Phantasien können sehr schnell wechseln – ebenso wie körperliche Befindlichkeiten auch. Das erkennt man oft schon daran, dass der Patient in der Psychoanalyse-Stunde ein ziemliches Tempo vorlegen kann. Ähnlich wie im Traum können sich die Phantasien blitzschnell, wie in einem Kaleidoskop, verändern. Es dauert oft lange, bis unbewusste Phantasien schließlich in Worte gefasst werden können.

Was geht im Baby vor?

Issacs beschreibt, was ein Baby „denken“ könnte: Es hat Hunger und phantasiert: „Ich möchte an der Brust saugen.“ Wenn der Hunger intensiver werde, könne das Baby phantasieren: „Ich will die Brust ganz aufessen.“ Es mache die Erfahrung, dass die Brust immer wieder weg gehe. Es könnte dann phantasieren: „Ich will die Brust bei mir behalten. Also fresse ich sie auf.“ Wenn das Baby frustriert sei, könne es auch den Impuls haben, die Mutter ins Gesicht zu schlagen oder die Brust in kleine Stücke zu zerbeißen. Im Gegenzug, so Isaacs, könne eine Angstphantasie entstehen, die da heißt: „Die Mutter könnte mich beißen.“ Fehle die Brust/die Mutter, kann das Kind die Wartezeit durch Phantasien überbrücken. Es versuche, sich durch Nuckeln am Daumen selbst zu befriedigen. Freud sprach hier von halluzinatorischer Befriedigung. Wenn die Mutter das Baby endlich füttere, so könne es auch eine Art Wiedergutmachung phantasieren, so Isaacs, etwa in dem Sinne: „Ich will die Stücke wieder zusammenführen.“

Widersprüche vereint

Unbewusste Phantasien können nacheinander oder gleichzeitig entstehen. Gegensätze können nebeneinander bestehen, wie im Traum. Es ist ähnlich, wie auch gegensätzliche Regungen im Körper gleichzeitig bestehen können: Man kann Wasser lassen müssen und gleichzeitig Durst haben. Die unbewussten Phantasien, die so eng mit dem Körper verbunden sind, spielen bei Hypochondern eine ganz besondere Rolle.

Die Phantasien seien schon aktiv, bevor Sprache entstehe, so Isaacs. Sie erinnert daran, wie Phantasien durch Tanz, Malen, Skulpturen, Formen, Farben oder Musik hervorgerufen werden können. Worte spielten dabei oft keine Rolle – im Gegenteil: So manche Erfahrung könne gar nicht in Worten ausgedrückt werden.

Große Ängste durch Phantasien

Phantasien können größte Ängste auslösen. Isaacs führt das Beispiel eines Kindes an, das ein Jahr und acht Monate alt ist. Die Mutter trägt einen Schuh, dessen Sohle lose geworden ist. Das Kind schreit fürchterlich und hat riesige Angst vor diesen Schuhen. Die Mutter versteht noch nicht und muss die Schuhe schließlich weglegen. Gute Worte haben so gut wie keinen Einfluss auf unbewusste Phantasien. Als das Kind zwei Jahre und elf Monate alt ist, also 15 Monate später, fragt das Kind die Mutter: „Wo sind Mamas kaputte Schuhe? Sie können mich auffressen.“ Erst hier wird deutlich, welche Phantasie das Kind gequält hat: Die „Flapp-Sohle“ war so etwas wie ein bedrohlicher Mund.

Wenn kleine Kinder beißen

Isaacs führt ein Beispiel der Psychoanalytikerin Merrell Middlemore (1898-1938) an. Es handelte sich um die Analyse eines Mädchens, das zwei Jahre und neun Monate alt gewesen sei. Sie habe ständig andere Menschen gebissen und gespielt, sie sei ein beißender Hund, ein Krokodil, ein Löwe, eine Schere oder ein Betonmischer. Ihre unbewussten Phantasien seien ebenso destruktiv wie ihr bewusstes Spiel.

Das Kind hätte von Anfang an die Brust verweigert und immer nur sehr wenig gegessen. Middlemore (1941) verstehe es so, dass die furchtbaren Hungerattacken zu den Phantasien von Beißen und Gebissen-Werden geführt hätten. Nicht umsonst sprächen wir von „beißendem Hunger“. Isaacs schreibt, dass solche Triebe tief in uns verankert sind. Die Kinder müssten nicht erst irgendwo gesehen haben, dass jemand sterben kann, wenn man ihn attackiert oder verschlingt. Es sei ein Wissen, das tief in uns sei.

Was wir von uns geben

Viele Kinder (und auch Erwachsene) seien gedanklich oft mit dem Urin und dem Stuhl beschäftigt, so Isaacs. Wenn sie zur rechten Zeit urinieren oder defäkieren müssten, sei alles gut. Aber wehe, wenn es zu unpassender Zeit passiere – dann wird’s unangenehm. Kinder hätten daher oft die unbewusste Phantasie, dass der Urin etwas Schlechtes sei. Sie könnten sogar unbewusst phantasieren, dass ihre Mutter im Urin ersaufe oder verbrenne, so Isaacs. Denn Urin habe auch eine „beißende, heiße“ Qualität, vor allem in Zeiten der Krankheit. In Zeiten, in denen es dem Kind gut gehe und es die „Gutheit“ seiner Organe spüre, wolle es der Mutter seine Liebe zeigen. Urin und Faeces seien dann „Instrumente der Potenz und Liebe“ so Isaacs. Urin und Faeces können also gut oder böse sein.

Oft sagen wir: „Das sind doch nur Phantasien.“ Doch es sind eben nicht „nur“ Phantasien. Es sind Phantasien, die unser Leben bestimmen, uns oft verzweifeln lassen, zu Krieg oder Frieden führen. „Ich weiß, dass ich hier keine Angst haben muss, dass ich nicht wirklich zur Toilette muss, dass ich mich nicht übergeben muss, dass ich den anderen nicht angreifen will – und doch ist es da“, sagen wir vielleicht manchmal. Hier sind meistens unbewusste Phantasien beteiligt – sobald wir sie verstehen, kann unsere Drangsal oft nachlassen.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Literatur:

Gerald Poscheschnik, Bernd Traxl (Hg.) (2016):
Handbuch Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft
Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen
Psychosozial-Verlag, 2016

Thomas H. Ogden (2006):
Frühe Formen des Erlebens
Psychosozial-Verlag

Axel Hacke / Michael Sowa (2004):
Der weiße Neger Wumbaba
Der Megabestseller des Verhörens
Verlag Antje Kunstmann

Susan Isaacs (1948):
The Nature and Function of Phantasy
In: International Journal of Psycho-Analysis 29, 73-97
https://www.libraryofsocialscience.com/assets/pdf/Isaacs_Phantasy.PDF

Evans, Bonnie (2017):
The first autism controversies
In: The Metamorphosis of Autism: A History of Child Development in Britain
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK436848/

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.3.2016
Aktualisiert am 26.9.2023

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