Masochismus ist der Aktivismus des Ohnmächtigen
Aktiv sein, die Kontrolle haben, das ist der Traum. Gleich daneben der andere Traum: Passiv sein, Wohlbefinden, Versorgtwerden. Der Aufbau-Trieb will den Turm bauen, der Zerstörungstrieb will ihn zerschlagen. So nah beieinander. In 1000 Teilchen zerfallen die Klötzchen – es ist so schön anzusehen. Wir fühlen uns mächtig, wenn wir zerstören. Wenn wir zerstören, können wir tun. Wir haben’s im Griff. Wenn wir Gutes wollen, sind wir abhängig. Wir lieben, doch wenn wir nicht zurückgeliebt werden, dann schlägt der Mast auf unserem Schiff um. Der Wind, er ist immer noch derselbe, er kommt immer noch von vorn, doch was wir vorher liebten, das hassen wir nun. Wende geglückt. Alles so nah beieinander.
Unser Körper, er spürt den Schmerz. Was macht er, wenn der Schmerz zu groß wird? Er schüttet Endorphine aus. Kurz fühlen wir uns wieder wohler, handlungsfähiger, vielleicht sogar im Hochflug. Unsere Seele, sie spürt Unterdrückung. Wir fühlen uns passiv, ohnmächtig, ausgeliefert. Was macht die Seele? Sie kann es für Momente umkehren, sie kann Lust am Leid empfinden. Der Unterdrücker bleibt über uns. Schrecklich. Schrecklich-schön. Die Angst wächst. Der Unterdrücker nicht zu besiegen. Was können wir noch tun, jenseits von Null und Gutem, so weit im Bösen? Wir können das Schlechte verstärken.
Die einzige Aktivität im Leid, in der Qual, in der Ohnmacht und Passitivität, die uns bleibt, ist, das Leid zu verstärken: „Schlag mich doch! Tritt doch zu! Verstärke doch den Schmerz! Ich kann nicht weglaufen.“
Wir geben es uns. Und nochmal und nochmal. Fallen wir durch die Prüfung. Fügen wir uns dem Täter. Bauen einen Unfall, um dem Schrecklichen zu entfliehen. Sprengen uns in die Luft, wenn die Ohnmacht uns zu Boden zieht. Links von Null. Nur noch Mini-Regungen sind möglich. Und doch regen wir uns. Manchmal endet es tödlich, manchmal kommen die Dinge wieder ins Lot. Wir gehen über Null ins Positive. Wir fühlen uns wohl, gewinnen an Kraft, finden gute Menschen. Und was spüren wir manchmal ganz leis? Eine kurze Sehnsucht nach der anderen Seite, die sich irgendwie auch Unschuld nennt. Komisch, oder?
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 26.11.2015
Aktualisiert am 5.10.2019
One thought on “Masochismus ist der Aktivismus des Ohnmächtigen”
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Danke sehr für das Mitteilen Ihes Wissens, Struktur und der konstruktiven Grundstimmung. Ein gutgemachter und inhaltsvoller Blog.
Alles Gute
LG
A. Hofmeister