Das Alleinerziehendengefängnis

20 Jahre. Knapp. Bei guter Führung weniger. Das Kind ist neun. Fast Halbzeit. Die Schuld lastet schwer. Den Geigenlehrer mit einer Ausrede angelogen, weil man nicht schon wieder sagen wollte, dass man wegen Erschöpfung absagt. „Lass Dir Zeit“, sagt die Nachbarin, die in dieser Woche schon das dritte Mal aufs Kind aufpasst. Doch das schlechte Gewissen klopft an, als die Abendveranstaltung die 22 Uhr überschreitet. Freigang beendet. Andere Mütter verabreden sich zum Kaffee und fühlen sich wie Alleinerziehende, weil der Mann erst so spät nach Hause kommt. Währenddessen sitzt die echte Alleinerziehende im Büro, um Geld zu verdienen. Sitzt die freiberufliche Alleinerziehende beim Kaffee, fließt in der Zeit kein Geld.

Die Alleinerziehende freut sich auf ein Date, das sie absagen muss, weil das Kind erbricht. Der Mann verliert die Geduld – nur alle zwei Wochen Zeit für ein Treffen ist ihm zu wenig. Konzert- und Kinoprogramme rauschen unbeachtet an einem vorbei. Yogakurse zur Entspannung werden von Frauen besucht, deren Partner abends für das Kind da ist. Die Schuld muss noch verbüßt werden. Die Freunde gehen alleine zum Kongress.

Dem Kind gerecht werden

„Mama, Du hast mich gar nicht lieb! Wenn Du ehrlich bist, dann wünschst Du Dir doch, dass ich gar nicht da wäre!“ Wieder sticht die Schuld. All die Mühen. Und doch spricht das Kind ein Wahrheitsfünkchen. Bin ich zu egoistisch? „Doch, Schätzchen, ich liebe Dich über alles. Das ist die Wahrheit. Ich würde Dich niemals verlieren wollen. Ich wusste nur nicht, dass Alleinerziehend-Sein so viel Alleinsein bedeutet.“ Das Licht am Ende des Tunnels schimmert schwach durch. Im Winter schwächer als sonst.

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Literatur:

Alleinerziehende sind am stärksten gestresst.
Deutsches Ärzteblatt, Dienstag, 17. Juni 2014

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.11.2015
Aktualisiert am 26.3.2019

3 thoughts on “Das Alleinerziehendengefängnis

  1. Natalie sagt:

    Alleinerziehend-Sein in Deutschland bedeutet Isolation und Einzelhaft. Und es bedeutet Urlaubsentzug. Obwohl meine Kinder (14 und 17) absolut bestens alleine klar kommen, beide sehr gut in der Schule sind, darf ich als Alleinerziehende die Kinder nicht zu Hause lassen und in Urlaub fahren. Es gibt nicht mal ein Nanny System wie in Asien oder muslimischen Ländern.

  2. Seelenbummler sagt:

    Ich beneide Euch nicht, trotzdem bilde ich mir ein, ich würde sofort tauschen, ich bin Wochenendpapa, sehe meine Tochter einmal in der Woche.. Hätte ich mich getrennt, wenn ich gewusst hätte, dass ich mich nicht nur von der Mutter trenne, sondern auch zum Teil von meiner Tochter? Hätte sie gerne öfter bei mir, ihre Mutter will das nicht, hat Angst, dass sie zu zerissen wird, zwischen uns… Ständig die Drohung, dass sie wegzieht, dass ich sie nur noch in den Ferien sehe… Ich wünsche Euch Kraft und viele schöne Momente mit Euren Kindern…

  3. Melinas sagt:

    Alleinerziehend heißt über seine Kräfte gehen….mehr geben was man hat….bei allen Entscheidungen ist man allein….es reicht nie….auch das Kind muss überfordert werden….sonst kommt man nicht durch als Ernährer und Mutter gleichzeitig. Man kämpft an allen Ecken.
    Doch ich glaube es hat sich gelohnt – zumindest für meine Tochter. Sie ist so geworden wie ich es mir für sie gewünscht habe – stark, mit beiden Füßen in der Welt stehend – sensibel aber nicht zu sehr – wissend was sie will – mit einem guten Partner, der sie unterstützt, alles was ich nicht hatte und nicht bin.
    Doch Kinder will sie keine – nicht in diese Welt – es gibt genug unglückliche Kinder auf dieser Welt, wenn dann würde sie eines adoptieren. Aber sie will auch auf ihre Lebenspläne nicht verzichten und sie hat viele.
    Doch leise schleicht sich eine heimliche Frage ein: will sie keine Kinder, weil sie gesehen hat wie schwer es für mich war?
    Für mich weiß ich noch nicht so genau ob es für mich sich gelohnt hat.

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