Der Ohrwurm: intrusiv und oft nah an der Zwangsstörung

Ein Ohrwurm kann als intrusiv und sehr quälend erlebt werden. Oft haben wir das Gefühl, wir können uns nicht dagegen wehren. Er kann sich hartnäckig wiederholen und über sehr lange Zeit immer wieder unser Begleiter sein. Sein wiederholtes Auftreten kann an eine Zwangsstörung erinnern – wir fühlen uns diesem inneren Geschehen ausgeliefert. Und doch hat es seinen Sinn. Der Ohwurm will uns auf etwas aufmerksam machen, er kann auch eine Flucht vor einem Gefühl oder einer ungewollten, zum Beispiel „dreckigen“ Phantasie sein. Der Ohrwurm kann vielleicht mit sexuellen Erinnerungen assoziiert werden und ist wie eine Verschwörung gegen den Durchbruch des Ungewollten.

Der Ohrwurm ist abgekapselt – er steht allein, ohne Zusammenhang. Ähnlich ist es, wenn wir lange auf ein Wort schauen und über das eine Wort nachdenken, ohne mehr die anderen Worte des Satzes zu sehen. Dabei kann ein ähnliches Gefühl des Verrücktwerdens entstehen.

Der Ohrwurm quält uns, oder aber auch: Wir quälen uns mit ihm. Er kann Mittel zur Selbstbestrafung sein. Vielleicht können wir uns auch daran erinnern, wann er zum ersten Mal auftrat und die Situationen erkunden, in denen er auftritt. Welche Ängste spricht er in uns an? Er trennt uns vielleicht von der Umwelt: Während wir mit einem anderen Menschen sprechen, fühlen wir uns von unserem Ohrwurm terrorisiert. Der andere hat keine Ahnung davon, wie schlecht es uns vielleicht gerade geht. Der Ohrwurm kann von einem strengen Über-Ich herrühren. Wir können ihn mit „Besessenheit“ assoziieren, wodurch unsere Angst noch gesteigert wird. Es kann hilfreich sein, unsere Atmung zu beobachten, unsere Körperhaltung, Bewegungen und Gefühle. Manchen hilft es auch, den Ohrwurm genau zu beschreiben, ihn aufzumalen, ihn mittels Schreiben und Tagebuch zu erkunden. Manche Betroffene suchen Hilfe in einer Psychotherapie oder Psychoanalyse.

Unser Gehirn mag keine halben Sachen. Es vervollständigt bekannte Lieder, die abrupt aufhören und geht dann in eine Endlos-Schleife. Es liebt Ton-Verhältnisse: 1 : 4 (Quarten, Tatüütataaa der Feuerwehr) oder 1 : 8 (Oktaven, also Anfang und Ende einer Tonleiter – und wehe, die Tonleiter hört nach dem 7. Ton auf!). Das Gehirn liebt eingängige Rhythmen. Und wenn wir monoton arbeiten, ohne dass wir intellektuell gefordert sind, dann hat der Ohrwurm gute Chancen. Diese Anregungen entstammen dem 34-minütigen Film „Der Ohrwurm: (K)ein Haustier“ von Barbara Pichler-Hausegger und Wolfgang Beyer (Dokumentation 2014, myfidelio.at, nicht mehr auffindbar)

„Du hast die Haare schön, Du hast die Haare schön …!“ (www.youtube.com)

Was tun beim Ohrwurm?

  • Nachdenken darüber, ob der Ohrwurm uns etwas mittelien möchte. Was sagt der Text des Liedes aus, der immer wieder in unser Gehirn kommt? Woran erinnert uns der Rhythmus? Befinden wir uns in einer Situation, aus der wir gerne herauskommen möchten, aber zunächst nicht können?
  • Wir können unsere Körperhaltung und den Atemrhythmus verändern. Vielleicht mögen wir auch im Rhythmus des Ohrwurms gehen und ihn dann verändern.
  • Manche Ohrwürmer kommen wie ein Zwangsgedanke daher. Das Phänomen kann an ein Tourette-Syndrom erinnern, bei dem man Dinge impulshaft ausspricht, die man lieber nicht aussprechen möchte, weil sie aggressiv oder sexuell eingefärbt sind.
  • Wie bei einem Tinnitus kann es hilfreich sein, sich Meeresrauschen vorzustellen.
  • Wenn wir uns körperlich sehr anstrengen, kann der Ohrwurm zurückgehen.
  • Kaugummikauen verringert die Fähigkeit, gewollt an Musik zu denken (siehe Beaman et al., 2015). Auch scharfes Essen kann helfen.
  • Wir kämpfen oft gegen den Ohrwurm an und machen ihn damit vielleicht nur schlimmer. Wir befürchten, davon verrückt zu werden, doch der Ohrwurm wird seinen Ausgang finden.

Ohrwurm: englisch = ear worm, earwig, catchy tune, Involuntary Musical Imagery (INMI);
italienisch: tormentone (in diesem Wort wird die Qual besonders deutlich; französisch: perce-oreille, forficule

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Musiker-Ambulanz der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Akerman-Nathan Aviv et al. (2024):
The aversiveness of intrusiveness: Evidence from involuntary musical imagery.
Volume 80, Issue 1, January 2024: Pages 110-126
https://doi.org/10.1002/jclp.23596
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/jclp.23596

Philip Beaman et al. (2014)
Want to block earworms from conscious awareness? B(u)y gum!
The Quarterly Journal of Experimental Psychology
Volume 68, 2015 – Issue 6, Pages 1049-1057
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/17470218.2015.1034142

Nicolas Farrugia et al. 2015
Tunes stuck in your brain: The frequency and affective evaluation of involuntary musical imagery correlate with cortical structure
Consciousness and Cognition, Volume 35, September 2015, Pages 66-77
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1053810015000975
These results provide the first evidence that INMI is a common internal experience recruiting brain networks involved in perception, emotions, memory and spontaneous thoughts.

Floridou GA et al. (2012):
Contracting Earworms: The Roles of Personality and Musicality
Conference Paper, September 2012 (PDF)
„The findings of this project indicate that a) the characteristics of spontaneously earworms (INMI) show a dependence on certain individual personality traits (neuroticism), whereas the deliberate induction of earworms under laboratory conditions does not, and b) the mental process of recalling song lyrics can be as efficient in triggering earworms as listening to music, suggesting that earworm induction may be linked with basic memory mechanisms.

Hyman IE Jr. et al. (2015)
Involuntary to intrusive: Using involuntary musical imagery to explore individual differences and the nature of intrusive thoughts.
Psychomusicology: Music, Mind, and Brain, 25(1), 14–27.
https://doi.org/10.1037/pmu0000075
https://psycnet.apa.org/record/2015-20863-001

Müllensiefen, Daniel et al. 2014
Individual Differences Predict Patterns in Spontaneous Involuntary Musical Imagery
Music Perception (2014) 31 (4): 323–338.
https://doi.org/10.1525/mp.2014.31.4.323
https://online.ucpress.edu/mp/article-abstract/31/4/323/62600/Individual-Differences-Predict-Patterns-in
High OC (Anmerkung Voos: obsessive compulsive disorder, Zwangsstörung) was positively related to INMI frequency and disturbance, but only indirectly to INMI episode length and unpleasantness. The identified contributory factors of INMI experiences are discussed in the context of musical memory and spontaneous mental activity.

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.9.2015
Aktualisiert am 9.12.2024

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