Was macht Bildung mit unserem Gesicht?

„Die Chefs erkennen die Bewerber am Stallgeruch“, heißt es in den höheren Etagen. Die Bewerber bräuchten nur den Raum zu betreten und die Chefs wüssten bereits, wie sie sie einordnen können. Manchmal sind dann selbst die motiviertesten Menschen chancenlos, wenn es ihnen am entsprechenden Stallgeruch fehlt (siehe Soziologie-Professor emeritus Michael Hartmann auf (deutschlandfunk.de, 2002), TU Darmstadt). Man kann es sich nicht antrainieren, weil z.B. auch die unwillkürliche Gesichtsmuskulatur viel über den Menschen aussagt. Es sind kleine Details, die wir nicht beeinflussen können. Viele intelligente Kinder kommen nicht in den Genuss von Bildung, weil ihr sozialer Stress zu hoch ist – sie sind beschäftigt mit den lauten Streitereien in der Familie, den unkontrollierbaren Reaktionen der Eltern und den Anspannungen, die durch Armut entstehen.

Es ist sehr schwierig, über diese Dinge zu schreiben, denn leicht können sich Lesende hier verletzt fühlen. Ich zeichne hier ein übersteigertes Schwarz-Weiß-Bild, damit die Dinge klarer werden. Die Realität der Menschen liegt immer irgendwo zwischen den Extrempunkten. Sogenannte „hochstrukturierte psychische Anteile“ können auch in einem einzigen Menschen gleich neben „niedrigstrukturierten Anteilen“ liegen. Und auch Menschen aus wohlhabenden, gebildeten Familien können sehr mit existenziellen Sorgen und psychischen Erkrankungen kämpfen.

Ein hoher Stresspegel lässt Bildung schwerer zu

Bei Menschen aus bildungsbenachteiligten und armutsbetroffenen Schichten ist der Stresspegel oft sehr hoch (McDonald et al. 2015), sodass auch die körpereigene Stressachse (HPA-Achse) oft stärker aktiviert ist als bei Menschen aus höheren sozialen Schichten. Das lässt sich häufig schon am „Lärm“ ablesen, der in Familien aus bildungsferneren Schichten möglicherweise öfter vorherrscht. Doch wie wird sichtbar, aus welcher Schicht ein junger Mensch stammt? Oder wird es sogar vielleicht riechbar?

Nicht selten lässt sich der Bildungsstand bereits am Gesicht, an der Mimik, Gestik und Körperhaltung ablesen. Sogar am Gesichtsausdruck von Babys lassen sich Hinweise auf den Bildungsgrad der Mutter finden. Die Mutter spiegelt den Gesichtsausdruck des Babys – und umgekehrt. Blickt das Baby den größten Teil der Zeit in das Gesicht einer hoffnungslosen, sorgenvollen, überforderten, abwesenden, wenig unterstützten und wenig gebildeten Mutter, hat das Auswirkungen auf sein eigenes Gesicht. Säuglinge, die in das Gesicht einer überwiegend depressiven Mutter schauen, sind selbst weniger ausdrucksstark (Brenda Lundy et al., 1996). Mütter wiederum, die aus armutsbetroffenen, bildungsferneren Schichten stammen, sind einer kleinen Studie zufolge möglicherweise häufiger von postpartalen Depressionen betroffen (Deepika Goyal et al., 2010).

Auch nehmen Eltern aus höheren sozialen Schichten ihre Kinder schon sehr früh ernst, was den Kindern Sicherheit im Umgang mit anderen vermittelt. Wenn ein Kind nicht sofort etwas versteht, haben gebildete Eltern oft mehr Ruhe, alles nochmal von einer anderen Seite her zu erklären, während andere Eltern oft so große Schwierigkeiten haben, sich auszudrücken, dass sie dasselbe einfach immer wieder, nur lauter, wiederholen.

Unter Bildung verstehe ich hier immer auch die Herzensbildung, die Mentalisierungsfähigkeit und die Beziehungsfähigkeit. Oft gehört dazu auch eine höhere Toleranz gegenüber Leiden, so heißt es oft. Doch Menschen aus armutsbetroffenen, bildungsfernen Schichten müssen jeden Tag so vieles erleiden, dass ihre Frustrationstoleranz aufgebraucht ist. Sie zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie auf alles schneller reagieren müssen und weniger warten können.

Emotionaler Stress, Armut und geringe Bildung gehen Hand in Hand. Wer finanziell abgesichert ist und selbst schon aus einer gebildeten Familie kommt, hat häufig weniger existenziellen Stress. All dies hat Auswirkungen auf den Körper und auch auf den Gesichtsausdruck. Spielt die Polyvagaltheorie hier eine Rolle?

Unwillkürliche Mimik

Unsere Mimik ist zu großen Teilen unwillkürlich. Selbst, wenn wir es nicht wollen, verzieht sich unser Gesicht für Bruchteile von Sekunden, wenn wir jemanden sehen, der uns unsympathisch ist. Blitzartig hat der andere unsere wahre Stimmung erfasst. Selbst wenn wir noch so sehr wollen: Wir können unser Gesicht meistens nicht so kontrollieren, dass der andere nichts bemerkt. Die Gesichtsmimik bis in seine Einzelheiten untersucht hat der bekannte Gesichtsforscher Paul Ekman.

Der amerikanische Wissenschaftler Stephen Porges forscht daran, wie das vegetative Nervensystem auch unser soziales Verhalten beeinflusst. Mimik, Stimme und Mittelohr werden vom Nervus vagus, also dem parasympathischen Teil des autonomen Nervensystems beeinflusst.

Kinder, die ständig Scham, Angst, Wut oder Ohnmacht erleben, die in das betrunkene Gesicht eines Elternteils schauen, blicken anders als Kinder, denen es gut geht. Kinder, denen es gut geht, sehen „erholter“ und dadurch gleich auch „gepflegter“ aus.

Kinder, die größtenteils von gebildeten Menschen umgeben sind und mit ihnen kommunzieren, übernehmen deren Mimik und Gestik, sodass sie als Erwachsene oft auch dann für Akademiker gehalten werden, obwohl sie nicht studiert haben.

Schauen gebildete Menschen nachdenklicher? Entspannter? Wie beanspruchen sie beim Lernen ihre Gesichtsmuskeln? Führt der differenzierte Wortschatz zu einer breiter gefächerten Mimik? Sind schon die Blicke der gebildeten Mutter mit ihrem Säugling anders? Wie funktioniert das Mentalisieren in den verschiedenen sozialen Schichten?

So, wie man am Körper eines Menschen erkennt, ob er gesund ernährt, ausgeschlafen, geschmeidig, flexibel und stabil ist oder nicht, kann man am Gesicht erkennen, welche Lern-, Kommunikations-, Gefühls- und Lebenserfahrungen ein Mensch gemacht hat. Wer sich aus einer unteren Schicht „hocharbeiten“ konnte, dem sieht man die Bildung ebenfalls an der Körperhaltung und dem Gesichtsausdruck an. Dennoch sieht man vielleicht mehr Spuren der Anstrengung. Wer sich auf dem Lebensweg selbst gut kennenlernen und Beziehungen gut gestalten kann, der hat gute Chancen, zu den „oberen Schichten“ dazuzugehören. Und dennoch bleibt die Herkunft aus einer bildungsfernen und armutsbetroffenen Schicht an manchen Weggabelungen immer wieder schmerzlich spürbar.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links und Studien:

Bjornsdottir, R. Thora and Rule, Nicholas O. (2017):
The visibility of social class from facial cues.
Journal of Personality and Social Psychology, 113(4), 530–546.
https://doi.org/10.1037/pspa0000091
https://psycnet.apa.org/record/2017-23581-001

Kleisner K. et al. (2014)
Perceived Intelligence Is Associated with Measured Intelligence in Men but Not Women
Plos One Published: March 20, 2014, doi.org/10.1371/journal.pone.0081237
journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0081237

Ashley R. McDonald et al. (Pennsylvania State University, USA, 2015):
Socioeconomic status and inattention: The role of the HPA-axis
Psychoneuroendocrinology, November 2015Volume 61, Page 43
DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.psyneuen.2015.07.506
www.psyneuen-journal.com/article/S0306-4530(15)00740-4/abstract

Muscatell, Keely A. et al. (Department of Psychology, UCLA, Los Angeles, USA, 2012):
Social status modulates neural activity in the mentalizing network
NeuroImage, Volume 60, Issue 3, 15 April 2012, Pages 1771-1777
doi:10.1016/j.neuroimage.2012.01.080
www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1053811912000973

Segre, Lisa et al. (2007):
The prevalence of postpartum depression
The relative significance of three social status indices
Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology
13 February 2007, 42: 316-321 (2007)
https://link.springer.com/article/10.1007/s00127-007-0168-1

Paul Ekman, der Gesichtsforscher

Professor Aladein El-Mafaalani
Womit Bildungsaufsteiger kämpfen
Youtube, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 6.1.2014

Brenda Lundy et al. (1996):
Nowborns of mothers with depressive symptoms are less expressive.
Infant Behavior and Development
Volume 19, Issue 4, October–December 1996, Pages 419-424
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S016363839690003X

Deepika Goyal et al. (2010):
How Much Does Low Socioeconomic Status Increase the Risk of Prenatal and Postpartum Depressive Symptoms in First-Time Mothers?
Women’s Health Issues
Volume 20, Issue 2, March–April 2010, Pages 96-104
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1049386709001364

Celeste Kidd et al. (2013):
Rational snacking: Young children’s decision-making on the marshmallow task is moderated by beliefs about environmental reliability.
Cognition, Volume 126, Issue 1, January 2013, Pages 109-114
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0010027712001849

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.11.2014
Aktualisiert am 30.12.2022

7 thoughts on “Was macht Bildung mit unserem Gesicht?

  1. Dunja Voos sagt:

    Vielen Dank für Ihre Rückmeldung, liebe Frau Sehribg.
    Wenn man sich die Mikroanalysen der Säuglingsforscherin Beatrice Beebe anschaut (Decoding Mother-Infant Face-to-Face Communication, Youtube), lassen sich vielleicht schon früh die Ursachen der verschiedenen Gesichtsausdrücke erkennen. Manchmal lässt sich am Gesichtsausdruck eines Babys bereits der Bildungsstand der Mutter erahnen. Hierbei spiegelt die unbewusste mimische Muskulatur mentale Zustände wider. Wer sich ständig um das finanzielle Überleben sorgen muss, wer in der Familie nur Kampf erlebt und in Familien mit wenigen Mentalisierungsfähigkeiten (die Fähigkeit, über sich und andere nachzudenken) lebt, dem geht es psychisch oft nicht gut. Armut zum Beispiel gehört mit zu den größten Auslösern von Krankheiten, unter anderem auch der Depression. Es ist schwierig, diese Zusammenhänge zu thematisieren, denn Stigmatisierung und Diskriminierung erscheinen da nicht weit. Das Gute ist, dass man sich ein Leben lang entwickeln kann. Dinge wie ein Studium, die intensive Beschäftigung mit einem Thema, die bewusste Auseinandersetzung mit schweren Leid oder Psychotherapie können die Mimik ein Leben lang verändern.

  2. Simone Sehribg sagt:

    Wirklich sehr interessant. Mir fiel dies schon als Kind sehr deutlich auf. Hauptschüler sind mir im Gegensatz zu Gymnasiasten im Mittel als mimisch und gestisch verspannter und auch in ihren Bewegungsabläufen unkoordinierter in Erinnerung. Daran orientiere ich mich heute noch, wenn ich fremde Gruppen Schulkinder beobachte und es funktioniert erschreckend gut, Kinder anhand dieser Erscheinungsmerkmale einem bestimmten Bildungs- bzw. Sozialmilieu zuzuordnen. Ich empfehle jedem, der noch Zweifel hat, sich mal online Klassenfotos von Gymnasiasten eines hiesigen Gymnasiums anzuschauen und mit denen von Hauptschülern oder einfachen Sekundarschülern einer Regionalschule zu vergleichen.

  3. Dunja Voos sagt:

    Liebe Melande,
    eine interessante Idee. Die Mimik ist jedoch weltweit bei allen Menschen gleich, sodass ich denke, dass die Prinzipien dieselben geblieben sind. Man erkennt oft (aber natürlich bei weitem nicht immer), ob ein Mensch liebevoll angeblickt wurde, ob er gute Bildung und Bindung erhalten hat oder nicht – egal, aus welchem Land er stammt. Beide Welten – die „bildungsferne“ und die „bildungsnahe“ – zu erfahren macht es natürlich besonders interessant – welche Mimik „siegt“? (Gedankenspiel.)

  4. Melande sagt:

    Bei mir ist eine Frage entstanden:

    Ich glaube, dass man in der heutigen Zeit, wo die Welt bunter und breiter gefächert ist (unterschiedliche Kulturen und vielseitigere Sozialisationen), die Menschen/ deren Gesichter und Mimik weniger eindeutig beurteilen kann. EIN Mensch kann m. E. einen Erfahrungshintergrund haben ……..(ich übernehme jetzt mal die obige Zweiteilung)…….in SOWOHL bildungsfernen ALS AUCH bildungsstarken Kontexten. Demnach könnte es heute öfter zu Falsch-Zuschreibungen der „Chefs in den höheren Etagen“ kommen?

    Einen lieben Gruß von

    Melande

  5. Melande sagt:

    Ich würde gern kurz etwas zu „Karl meint, vom 16.11.2014“ schreiben:

    Jeder Mensch beurteilt, „sieht“ die Welt (Situationen, Menschen, mögliche Gefühle in den Gesichtern, usw.)
    „durch seine EIGENE BRILLE“ (der Brille der jeweiligen Erfahrungen, Glaubenssätze, Überzeugungen, was er gelernt hat im Verlauf seiner persönlichen privaten und beruflichen Sozialisation, usw.),
    aus seiner eigenen Perspektive heraus:

    KONSTRUKTIVISMUS (siehe: Systemische Psychotherapie).

    Erst das Zusammentragen MEHRERER PERSPEKTIVEN/Beurteilungen (aus mehreren Blickrichtungen mehrerer Menschen) ergibt ein objektives/objektiveres Bild.

    Tschüß
    Melande

  6. karl sagt:

    Unterschiedliche Differenzierung paßt in bezug auf Betrachtungsgrad. Betrachtungsgrad kann durch Bildung erhöht werden, aber etwas aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen ist imo eine zwischenmenschliche Lehre vor der Schule (es wird einem beigebracht durch Vorleben). Wie ein- oder vielseitig sind die um einen herum.
    Bücher liest jeder anders, ein Buch gibt jedem etwas anderes, jeder zieht das Eigene für sich raus und der, der verschiedene Blickwinkel einnehmen gelernt hat, kann auch „Fremdes“ aus einem Buch ziehen.
    Wehre mich dagegen, daß man Bildung wem ansieht. Mensch einer Kultur hat Probleme Gesichter anderer Kulturen zu „lesen“. Man sieht im anderen das, was man gelernt hat, in ihm zu lesen, weniger was wirklich vorhanden ist. Manche werden so, wie sie gelesen wurden, weil sie sich nicht anders sehen können.

  7. Jay sagt:

    In der Soziologie spricht man ja vom sogenannten ‚Habitus‘, welcher von Bourdieu sehr gut beschrieben wurde und eben jenen „Stallgeruch“ meint.
    Der jeweilige Habitus eines Menschen ist tief eingeprägt, schwer veränderbar und selbst mit sehr viel Übung nicht zu überspielen.
    Ich könnte mir vorstellen, dass die Mimik einer Person auch von eben diesem beeinflusst wird.
    Mich würde interessieren inwieweit pathologisch auffällige, manipulative Persönlichkeiten in der Lage sind, ihren Habitus (wenn auch nur oberflächlich) an die gegebene Situation anzupassen.
    Psychopathen sind ja mitunter wahre Meister im Täuschen und charismatischen Theaterspielen.
    Es gibt bei Youtube ein Interview mit dem Serienmörder Ted Bundy, in dem man gut erkennen kann, wie Bundy die Mimik seines Gesprächspartners genau liest und dann seine Antwort entsprechend dem anpasst, was er bei dieser Person in Sachen Manipulation erreichen möchte.
    Zumindest sind solche Leute wohl in der Lage die Mimik ihres Gegenübers genau zu lesen.

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