Das Ich und das Selbst

Mal nüchtern ausgedrückt: Mit „Ich“ ist in der Psychoanalyse nach Freud eine „Struktur des seelischen Apparates“ gemeint. Wenn wir „Ich“ sagen, zeigen wir auf unsere Brust – dorthin, wo Herzschlag und Atem liegen. „Das Ich ist vor allem ein körperliches“ (Freud: Das Ich und das Es, 1923, Projekt Gutenberg). „Ich“ erlebe etwas, mir widerfährt etwas, ich denke, handele, entscheide. Dass mein Ich zwischen dem „Es“ und dem „Über-Ich“ (= dem Gewissen) steht, spüre ich im Alltag nur allzu häufig: Ich muss abwägen zwischen meinem Trieb (z.B. dem Drang, zur Toilette zu gehen oder den anderen zu schlagen) und dem Über-Ich, das mir sagt: „Du kannst jetzt nicht aus dieser Sitzung raus.“

Mit dem Ich steuern wir uns. Dazu ist es auch manchmal nötig, dass wir bestimmte Gefühle oder Gedanken „abwehren“, das heißt, dass wir sie verdrängen oder sie „bereden“, damit sie sich abschwächen oder mehr zu dem werden, was wir eigentlich wollen und ertragen können.

Das Ich kann gestärkt werden, zum Beispiel, indem uns Unbewusstes/Vorbewusstes bewusst wird oder indem ein besonders starkes Über-Ich (das moralische Ich) etwas gelockert wird. Freud sagte: „Wo Es war, soll Ich werden!“ (Sigmund Freud: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, 31. Vorlesung, 1933, Projekt Gutenberg).

Das „Ich“ hat also eine Funktion, es „macht“ etwas, es arbeitet und es gestaltet teilweise auch unsere Träume. Das „Selbst“ hingegen ist etwas „Seiendes“. Die Begriffe „Bewusstsein“, „Ich“ und „Selbst“ sind nicht immer so leicht voneinander zu trennen.

So kann ich mich aus einer höheren Warte selbst beobachten, aber auch das ist immer noch eine Ich-Leistung. Während ich mich beobachte, wird derjenige, den ich da im Geiste beobachte, ein „Ich-Selbst“. Und wenn „Ich“ nach einer Ohnmacht „zu mir komme“ (zu meinem Körper, zu meinen Sinneseindrücken usw.), dann erlange ich das Bewusstsein wieder, das heißt, ich kann „mich“ wieder fühlen und denken, also „Ich“ sein. Das wiederum passt zu der Frage: „Wer ist Ich und wer ist Mich?“ (siehe: Das I and Me des William James). Das Selbst wird dann zu etwas Körperlichem, zu einem Objekt. „Wir“ können (aktiv) „uns selbst“ zuschauen.

Der Psychologe Aaron Mishara (2010) schreibt (übersetzt von Voos): „Die Begriffe Geist und Gehirn bleiben unpräzise wegen ihrer Mehrdeutigkeit, denn wir sind beides: Wir sind Geist, also wir sind ein Selbst (wir haben ein sogenanntes Erste-Person-Erleben) und wir haben einen Geist (Gehirn und Körper), also ein Selbst, das wir in der dritten Person beschreiben.“
(Originaltext:) „These terms (Anmerkung: Mind and Brain) remain imprecise due to a fundamental ambiguity that we are both minds, i.e., being a self (socalled first-person experience), and brains or bodies, i.e., having a self (third-person perspective).“ (Mishara, 2010)

Das Tiefe in uns

Und dann gibt es noch so eine Art „inneren Beobachter“ in uns, der alles einfach beobachtet und mitunter als „das Bewusstsein“ bezeichnet wird. Er ist immer da und immer ruhig, doch nur manchmal lenken wir unsere Aufmerksamkeit darauf. Einmal las ich die Beschreibung: „Die Wahrnehmungen fließen dem Bewusstsein zu.“ Wer Yoga lernt, der lernt vielleicht das Wort „Citta“ kennen, was oft mit „Bewusstsein“, aber auch mit „das Unbewusste“ oder „der Geist“ übersetzt wird. Wirklich verstehen kann man die Konzepte wohl erst, wenn man sich eingehend mit Yoga beschäftigt. Im Buch „Freud und Yoga“ (Desikachar und Krusche, 2007, 2014 North Point Press, S. 30, amazon) fand ich den schönen Satz des Yogalehrers Desikachar (1938-2016):

„Citta means ‚that which is close to consciousness that is almost consciousness.‘ In Sanskrit we say, ‚That consciousness which pretends to be consciousness is citta.'“ („Das Bewusstsein, das vorgibt, Bewusstsein zu sein, ist Citta.“)

„Die begriffliche Unterscheidung von Ich und Selbst wurde (Anmerkung Voos: in der Psychoanalyse) erst 1950 von Heinz Hartmann exakt vorgenommen.“ (Hans Kilian und Lotte Köhler: Von der Selbsterhaltung zur Selbstachtung, S. 26, Psychosozial-Verlag, 2013)

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.6.2019
Aktualisiert am 24.8.2023

Literatur:

Aaron L. Mishara (2010):
Kafka, paranoic doubles and the brain:
hypnagogic vs. hyper-reflexive models of disrupted self in neuropsychiatric disorders and anomalous conscious states

Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 2010, 5:13
http://www.peh-med.com/content/5/1/13
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2944142/

Hans Kilian und Lotte Köhler:
Von der Selbsterhaltung zur Selbstachtung
Der geschichtlich bedingte Wandel psychoanalytischer Theorien und ihr Beitrag zum Verständnis historischer Entwicklungen
Psychosozial-Verlag, Gießen 2013
S. 25: Die Unterscheidung von Ich und Selbst
www.psychosozial-verlag.de

Dieser Beitrag erschien erstmals am 16.2.2014
Aktualisiert am 8.6.2019

2 thoughts on “Das Ich und das Selbst

  1. Dunja Voos sagt:

    Liebe Melande,
    eine interessante Frage! Ja, ich denke schon, dass durch Selbstreflexion das Ich gestärkt wird. Besonders auch dann, wenn man sich diese Fragen innerhalb einer Beziehung stellt.
    Herzliche Grüße,
    Dunja Voos

  2. Melande sagt:

    In mir ist eine Frage entstanden:
    Wenn ich über mich selbst nachdenke, über meine Erinnerungen und Erlebnisse, mein vergangenes und gegenwärtiges Leben, meine Funktion in der Welt, meine Überzeugungen und mein Verhalten, meine vermutete Wirkung auf andere,……wenn ich also häufig (kritisch) reflektiere über mein Selbst,…ob dadurch wohl mein Ich stärker wird?
    Liebe Grüße!
    Melande

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