Abhängige Persönlichkeit: Wie viel Struktur, Substanz und Hülle kann ich mir selbst geben?
„Da haben wir wieder so eine abhängige Persönlichkeit: Die Patientin meint, nicht ohne uns leben zu können“, sagt die Stationsschwester genervt. Die Klinik gibt der Patientin Struktur, doch sobald sie entlassen ist, leidet sie wieder unter übergroßer Angst. Dieser Mechanismus führt oft zum „Drehtür-Effekt“: Die Patienten kommen immer wieder, weil sie zu wenig innere Struktur haben. Diese innere Struktur erhalten wir insbesondere durch einen anderen Menschen, der sich für uns interessiert und der uns begleitet. Hatten wir gleich zu Beginn unseres Lebens einen Mangel an Einfühlsamkeit, dann fehlt uns innerlich etwas.
Die Videos der Psychoanalytikerin und Säuglingsforscherin Beatrice Beebe zeigen eindrucksvoll, wie Babys Sicherheit gewinnen, wenn die Mutter adäquat reagiert und wie sie unsicher werden, wenn die Kommunikation nicht klappt.
Wir alle kennen die inneren Stimmen in uns, vielleicht das „maligne Introjekt“, die fehlende oder auch die gute Mutter in uns. Wir kennen Menschen, die strahlen Geborgenheit aus. Es ist, als hätten sie eine schützende Hülle um sich herum.
Das sind oft Menschen, die einfühlsame Eltern hatten und in guten Beziehungen leben. Sie wirken einerseits „wenig abhängig“, gewinnen ihr Sicherheitsgefühl aber andererseits auch durch gute Beziehungen, vielleicht durch eine gelungene Partnerschaft oder durch die Zusammenarbeit mit guten Kollegen.
Wer an einer „abhängigen Persönlichkeitsstörung“ leidet, der fühlt sich so, als hätte er innerlich aber auch außen im realen Leben keinen kraftspendenden Menschen: weder eine gute Mutter, einen beschützenden Vater, einen liebevollen Partner, eine sichere Arbeitsstelle oder einen verlässlichen Freundeskreis.
Wir möchten gerne unabhängig sein und uns die Kräfte „aus uns selbst“ herausholen. Doch wir merken, dass das nicht so leicht geht. Manches können wir uns nicht selbst sagen, aber wenn wir es von einem anderen hören, dann ist es, als würde sich ein schützender Mantel um uns legen. Wenn wir lange nicht berührt wurden – mit Händen oder mit Worten – dann fühlen wir uns mitunter brüchig.
Die Frage, die wir uns stellen, ist: Wieviel Kraft kann ich eigentlich aus mir selbst herausholen? Eine mögliche Antwort wäre: Mithilfe der Wahrheitsliebe. Viel Kraft geht verloren, indem wir versuchen, Wahrheiten nicht wahrhaben zu wollen. Indem wir der Wahrheit aus dem Weg gehen, verlieren wir die Verbindung zu unserem Inneren und zum Anderen. Doch nach traumatischen Erlebnissen braucht man erst einen „inneren Helfer“, der es ermöglicht, schreckliche Wahrheiten auszuhalten.
Auch dieser innere Helfer entsteht über die Erfahrung mit einem guten äußeren Helfer. Die regelmäßige Kommunikation mit diesem anderen Menschen, z.B. einem Lehrer oder einem Psychoanalytiker, führt dazu, dass sich ein innerer Raum entwickelt, aber auch das Gefühl, beschützt zu sein. Doch wieviel Schutzhülle gebe ich mir selbst, wieviel kann ich selbst in mir „containen“, wie sehr kann ich mir selbst eine gute Mutter sein? Wie sehr kann ich schädigende Kräfte in mir in Schach halten? Wie lange kann ich die Energie von geliebten Menschen mitnehmen und wann läuft mir sozusagen die Kraft aus?
„Die Lust am körperlichen Kontakt mit der Mutter bzw. die Anklammerung an sie ist sowohl die Grundlage der Bindung als auch Voraussetzung der Trennung.“
Didier Anzieu: Das Haut-Ich. Suhrkamp, 6. Auflage 2016, S. 44
Gute Abhängigkeit macht unabhängig
Wenn wir uns selbst wie eine „abhängige Persönlichkeit“ fühlen, kann es helfen, eine Psychoanalyse zu machen. In einer Psychoanalyse kann man seine Vorstellungen über sich und andere (Repräsentanzen) neu aufbauen. Wenn man an den Analytiker denkt, beruhigt das. Es kann aber auch Phasen der Beunruhigung und des „Ausstoßenwollens“ geben.
Es ist wie bei Kindern: Werden sie zu früh aus dem Nest geworfen, fehlt ihnen innerlich etwas. Sie können sich nur mit Mühe weiter aus sich selbst heraus entwickeln. Andererseits können herausfordernde Lebenssituationen „den Löwen in uns“ wecken und uns über uns selbst hinauswachsen lassen, wie wir es nie für möglich hielten.
Wir brauchen andere, um emotional aufzutanken. Wichtig ist es, dass wir lernen, auf unsere Bedürfnisse zu achten und mit anderen Menschen vorsichtig umgehen, damit befriedigende Beziehungen möglich werden. Und dann ist es ein Wechselspiel: Durch die befriedigende Beziehung habe ich das Gefühl, dass ich mich mehr aus mir selbst heraus entwickeln kann.
Wenn wir einen anderen brauchen, aber niemand da ist, dann können wir zumindest nach geistiger Nahrung Ausschau halten. Der Psychoanalytiker Didier Anzieu schreibt in seinem Buch „Das Haut-Ich“, dass Worte wie eine Haut wirken können, sodass wir uns zum Beispiel neu umhüllt fühlen können, wenn wir etwas lesen, das uns genau in dem Moment berührt. Der Künstler Gérard Garouste, der einst an einer Psychose litt, hält sich gesund, indem er malt und einmal pro Woche zu einem Gelehrten geht, mit dem er alte Texte durchgeht (gesehen in der Dokumentation „Wahn und Wahrheit“, arte TV).
Gute Bücher, inspirierenden Filme, Musik, Natur, aber auch Stundenpläne und selbst auferlegte „Ordnungstherapie“ können uns helfen, Energie zu tanken in Zeiten, in denen es uns an haltgebenden Beziehungen fehlt. Wir brauchen Beziehungen, aber wir brauche auch immer einen eigenen Raum – innerhalb und außerhalb von Beziehungen. Ein Leben lang und in allen Lebensphasen suchen wir wohl nach dem richtigen Gleichgewicht aus Beziehung, Rückzug, Alleinsein und Wiederannäherung.
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Liebe Dunja,
bei manchen deiner Beiträge erkenne ich mich und meine Erfahrungen wieder und manchmal, so wie jetzt, würde ich so gern alles erzählen, was ich erlebt habe und was ich mir heute dazu so denke.
Hier vielleicht mal ein wenig dazu. Ich war unter anderem mein Leben lang viel auf mich allein gestellt, war tatsächlich viele Jahre innerlich wie faktisch allein, bin es heute noch mehr als manch anderer vielleicht.
Unglaublich gute Seelen und Freunde ebenso wie 5 Jahre gute und intensive Psychotherapien haben mich durchaus schon wachsen lassen und heilen.
In meiner Kindheit und Jugend hörte ich von Familie von Lehrern und netten Nachbarn oft sowas wie, man muss ja auch allein sein können. Wenn man nicht allein sein kann ist es auch nicht gut und wahre Liebe ist die Selbstliebe dazu braucht man niemanden. Das habe ich Jahre ernst genommen und so geglaubt, so wollte ich mein Alleinsein und die Einsamkeit zum Wachstum nutzen, glaubte vielleicht ist es eine Chance.
Heute einige Jahre später, habe ich zum Thema, Einsamkeit, Alleinsein (können), Unabhängigkeit, Freiheit, Bedürfnissen und Menschsein mein ganz eigenes Bild.
Ich denke, gerade in der heutigen Zeit, dem Individualismus und den Unabhängigkeitsbestrebungen unserer Gesellschaft, sollten wir doch einen Grundlegenden Gedanken nicht vergessen.
Der Mensch ist ein Soziales Wesen, quasi ein Herdentier. Das ist seine Grundnatur und der Mensch ist somit nicht zum Alleinsein gemacht. Wir brauchen einander und das Miteinander, um zu überleben, um zu lernen, uns körperlich, seelisch und emotional zu entwickeln und auch zu erhalten. Das ist etwas ganz natürliches. Heute wird das vielleicht allzu schnell vergessen und fällt dem Unabhängigkeitsbestreben zum Opfer.
Auch ich habe es in den letzten 10 Jahren in meiner Therapie und unter Freunden gebraucht, Zuwendung, Wert, Fürsorge, Liebe, (emotionale und physische) Nähe und vieles mehr zu bekommen. Allein, um zu lernen oder mich zu erinnern, wie sich Verlässlichkeit, Fürsorge, Liebe, Halt, Struktur und vieles mehr anfühlt und wie es geht. Einiges hätte nicht, ohne das Andere es mir vormachen und geben (ist hier quasi das selbe) aus mir allein kommen können. Ich hätte nicht einmal gewusst, wonach ich in mir hätte suchen sollen. Erst nachdem ich das Gefühl erlebte durch andere, die es mir gaben, wusste ich, wie es sich anfühlt und konnte dann schauen, wo und wie ich es mir selbst geben oder es in mir entfachen kann.
Unfassbar vieles zu Selbst Fürsoge, Struktur, Ruhe, Liebe, Umgang mit Gefühlen, Kommunikation, Alltagsbewältigung habe ich mir von den andern Menschen abgeschaut. Innerlich wie äußerlich von Ihnen bekommen, geliehen. Vieles kann ich ESHALB heute aus mir heraus für mich schaffen.
Aber ebenso vieles, ist mir heute möglich an stabilerem Leben Struktur und Sicherheit, weil ich mein soziales Netz habe. Meine Freunde, Nachbarn, Ärzte, Therapeuten oder die Supermarktverkäuferin und meine Alltagsstruktur. Ich habe es mir geschaffen und geschenkt bekommen von andern, beides zugleich und ich weiß. Menschen und Alltag ist da, wenn ich ihn brauche. Dadurch brauche ich sie oft nicht, kann alleine tun und entscheiden, alleine sein, bin selbstsicherer. Zum Teil weil ich es lernen konnte und zum Teil, weil ich weiß, es sind Menschen da, wenn es Not tut.
So kann ich sagen, autonomes Leben und handeln und stabile Sozialgefüge und Beziehungen bedingen einander, völlige Unabhängigkeit und allein sein. in dem ein Mensch niemanden braucht, widerspricht dem Menschsein. Auch jeder Mensch in gewissem Maße den andern braucht, muss man sich als Mensch eingestehen und wagen.
Vieles davon findet sich in deinem Artikel wieder, danke.
Herzliche Grüße, Tamina