Wenn die Mutter Dich schwer traumatisiert hat: Die Angst zur Entwicklung nutzen

Vielleicht hast Du das Gefühl, dass Du Dich so gut wie nie geborgen fühlst. Das grundlegende Geborgenheitsgefühl entsteht besonders in den ersten Lebensmonaten. Die Mutter ist wohl der bedeutsamste Mensch in unserem Leben, denn die ersten Lebensmonate verbrachten wir in ihrem Körper. Wenn wir schon früh von der eigenen Mutter traumatisiert wurden, wurden wir vielleicht real körperlich beschädigt. Du hast vielleicht auch das Gefühl, dass ein Teil Deiner Seele zerstört wurde. Wie dies ungewollt passieren kann, zeigt z.B. die Säuglingsforscherin Beatrice Beebe in ihrem Video (Youtube, ab Minute 27).

Wenn die Mutter uns schon früh schwer attackiert hat, dann sind wir in unseren Grundfesten erschüttert. Meistens hat das Geschehen nichts mit „Schuld“ zu tun. Mütter geben ihre Verletzungen in der Regel unbewusst weiter.

Wer Gewalt durch die Mutter erlitten hat oder ihre Abwesenheit lange Zeit ohne vertrauten Ersatz erlebt hat, der hat oft das Gefühl, dass in ihm selbst etwas Entscheidendes zerstört wurde. Es kann auch das Gefühl entstehen, dass nie ein inneres Fundament aufgebaut werden konnte. Die Beziehung zu unserer wichtigsten Person also, zu der Person, die als „inneres Objekt“ später einen so wichtigen Platz in unserer Psyche einnimmt (auch als „abwesendes Objekt“, wenn sie nicht da war), ist höchst problematisch. Das kann mitunter starke Auswirkungen auf andere vertraute Beziehungen haben, die wir im Laufe des Lebens eingehen.

Wenn Du Deinen weiteren Entwicklungsweg suchst, dann ist Eines besonders wichtig: Nimm Dich selbst und andere ernst.

Je vertrauter die Beziehung, umso schwieriger wird es

Bei oberflächlichen Beziehungen mag noch alles in Ordnung sein, doch die psychischen und die Beziehungs-Probleme werden oft umso größer, je näher die Beziehung wird. Die vertraute Beziehung erinnert an die vertraute Beziehung zur Mutter. Es wird alles komplizierter und diffuse Ängste können ins Unermessliche steigen.

Viele Traumatisierte haben eine große „Angst vor dem Zusammenbruch“, über die der Psychoanalytiker Donald Winnicott einen so schönen Beitrag geschrieben hat (Psyche, Dezember 1991, 45. Jahrgang, Heft 12, pp 1116-1126).

Der Zusammenbruch ist beim frühen Trauma sehr nah

Wenn Du selbst früh traumatisiert bist, hast Du mitunter ständig Angst, dass etwas in Dir selbst zusammenbricht. Diese Angst kann im Alleinsein groß sein, aber auch dann, wenn Du mit Deinen vertrautesten Menschen zusammen bist. Nichts scheint diese Angst beruhigen zu können. Mit dem anderen scheint es nicht zu gehen, aber ohne ihn auch nicht. Es besteht vielleicht die Angst, dass der vertrauteste Mensch in Deinem Inneren einen immensen Schaden anrichten könnte. Das kann vielleicht gar nicht genau in Worte gefasst werden, sondern es besteht die Sorge, es könnte „etwas Schlimmes“ passieren, als könnte sozusagen ein Stück von der eigenen Seele abbrechen oder als könnte die eigene Seele zu Tode gequetscht werden. Und diese eigene Angst kann so groß sein, dass Du glaubst, sogar einer anderer, dem Du Dich anvertraust, könnte sich katastrophal erschrecken. Diese Vorstellung ist meistens jedoch nur ein Spiegel der eigenen inneren Katastrophe.

„Was, wenn der vertrauteste Mensch sieht, welche große Angst, welche große Zerstörung in mir ist? Und was, wenn noch nicht einmal er mir dann helfen kann?“, lautet die bange Frage.

Wenn die Mutter die Quelle der Gefahr war, dann entsteht so etwas wie ein „unlösbares Problem“ in unserem Inneren. Erst das spätere Nachdenken darüber (Mentalisieren) kann helfen. Oft fühlen wir uns vielleicht so, als sei uns nicht mehr zu helfen. Das ist ein inneres Erleben. Jemand, der von außen kommt, kann das vielleicht ganz anders erleben. Er fühlt sich vielleicht viel weniger hilflos, als Du selbst es meinst. Möglicherweise hatte sich Deine Mutter damals hilflos gefühlt.

„Was, wenn meine Wahrnehmung mich trügt?“

Traumatisierte können manchmal schlecht ihrer Wahrnehmung trauen, weil sich rasch ein „alter Film“ über die aktuelle Situation legt. Paradoxerweise entsteht dadurch manchmal ein besonderes Sicherheitsgefühl – was klar ist, wenn wir neue Erfahrungen vermeiden wollen und an unseren alten Eindrücken festhalten. Manchmal bemerken wir die trügerische Sicherheit und es kommt dann vielleicht die Angst vor dem Verlust oder Fehlen der richtigen Wahrnehmung. Hier hilft das Bestreben, zur Beruhigung zurückzufinden, denn im beruhigten Zustand können wir besser wahrnehmen, beobachten, auf die aktuelle Situation reagieren und nachdenken. Beobachten, Abwarten, sich bewegen, Yoga üben, heiß duschen, meditieren – was auch immer den Geist beruhigt, kann uns helfen, die aktuelle Situation neu wahrzunehmen, zu beurteilen und zu überlegen, was wir nun tun oder nicht tun wollen.

Vielleicht empfindest Du Dich selbst oft als Belastung für Dich und andere. Auch das kann die ursprüngliche Beziehung zwischen Dir und Deiner Mutter widerspiegeln. Hilflosigkeit zeigt sich. Niemand hat daran Schuld – es ist eher ein Schicksal. Doch wir schauen schmerzvoll und neidisch auf die anderen, denen es besser geht. Wenn Du es Dir wünscht und geduldig daran arbeitest, gelingt es Dir jedoch wahrscheinlich selbst, eine gute Beziehung zu einem anderen Menschen aufzubauen, der sich auf positive Weise nicht zu sehr von den Dingen beeindrucken lässt. Gut ist ein Partner, der es akzeptieren kann, wenn Du Abstand und Ruhe brauchst, um wieder zu Dir zu finden.

Die Wunde

Ein Teil der eigenen Seele fühlt sich also sehr verletzt und verletzlich an. Dann fühlt sich die Beziehung verletzlich an. Und schließlich ist auch der Ort entscheidend. Denn das Haus, in dem das Trauma stattfand, das „Zuhause“, ist ein Symbol für das Zuhause der Seele. „Kann ich mich in mir selbst jemals geborgen fühlen?“, lautet die bange Frage. Kam man als Schulkind mittags nach Hause, dann war dies bei früh traumatisierten Menschen der Ort, von dem die Bedrohung ausging. Was kann schlimmer sein?

Ein Mantra:
Der andere greift mich nicht an.
Der andere greift sich nicht an.
Ich greife den anderen nicht an.
Ich greife mich nicht an.

Gleich alles auf einmal

Diese Kombination aus „Bedrohung in sich selbst“, „Bedrohung in der Beziehung“ und „Bedrohung im Haus“ ist fürchterlich.

„Stellen Sie sich einen sicheren Ort vor“, sagt der Psychotherapeut. „Ja wie denn?“, fragt man sich.

Vielleicht fehlt Dir die Vorstellung eines „sicheren Ortes“ ganz und gar. Vielleicht erlebst Du sogar eine Psychotherapie als Bedrohung. Und wenn Du Deinen „sicheren Ort“ gefunden hast, kann es immer noch sein, dass Du befürchtest, die Wand könnte gleich wieder einbrechen. Du spürst vielleicht eben besonders auch den „unsicheren Raum“ in Dir.

Frische Luft – egal, um welchen Preis! Vielleicht neigst Du auch dazu, aus Beziehungen wegzulaufen, weil Du Dich zwischendurch befreien musst und frische Luft brauchst. Die Bedrohung, die früher außen war, ist plötzlich in einem drinnen. Die Erinnerungen sind da – bewusste und unbewusste. Auch der Körper erinnert sich. Und vor sich selbst kann man nicht weglaufen. Was also tun?

Ein Ufer finden und zu Ground Zero spazieren

Wohl wir alle sind immer auch auf der Suche nach dem realen sicheren Ort und der realen sicheren Beziehung. Wir stellen dabei immer wieder fest, dass wir die Unsicherheit ertragen müssen. Fühlen wir uns sicherer, dann können wir von diesem Ort aus mit etwas Abstand unseren „Ground Zero“ betrachten. Vielleicht können wir uns dort etwas umsehen. Die Erinnerungen können unseren Körper beeinträchtigen: Durchfall, Herzrasen, Schlaflosigkeit sind häufige Begleiter.

Der Körper als Anker

Doch der Körper ist auch unser Anker: Er funktioniert von selbst. Wir brauchen nichts tun. In uns ist ein Teil, der nicht zerstört wurde, der weiter atmet und pulsiert. Wir spüren vielleicht auch in unserer Seele eine Art „Keim“, der da ist, der Bescheid weiß, der richtig wahrnimmt und Hoffnung hat. Manchmal ist es nur ein kleiner Funke, manchmal scheint das alles weit weg zu sein. Doch wann immer es geht, ist es wichtig, Kontakt zu dieser kleinen Flamme in sich selbst aufzunehmen.

Erneutes Erleben ist schwer, aber fruchtbar

Wenn wir Gefühle und Erinnerungen neu erleben, können wir sie sozusagen anfassen. Viele Folge-Erscheinungen des Traumas können wir untersuchen und verändern. Zum Beispiel ist es oft hilfreich, zu sehen, wie hilflos die Mutter war und dass sie nicht einfach „böse“ war. Andererseits kann man auch die Gewalt in sich spüren. Gewalt ist in jedem Menschen potenziell da. Doch bei schweren Traumatisierungen ist die Gewalt manchmal wie „eingedrückt“, sie wirkt oft sehr nah. Dies ehrlich zu beobachten ist ganz wichtig. Der Wunsch, Abstand von dieser Gewalt zu nehmen, sich nicht auf die Aufregung einzulassen, ist ebenfalls wichtig. Wir können die Kunst des „Nicht-Reagierens“ erlernen, um uns selbst mehr Ruhe zu verschaffen.

Es hilft, sich selbst mit einem mitfühlenden Blick anzuschauen, sich selbst mit einer guten inneren Stimme Erleichterung zu verschaffen. Wer zumindest eine gute Beziehung zu einem anderen Menschen in der Kindheit hatte, wer eine Beziehung zu „Gott“ oder zur Natur aufbauen konnte (siehe Dr. Gerald Gargioulo und Dr. Amira Simha-Alpern im Gespräch, Youtube), der kann diese inneren haltgebenden Vorstellungen nutzen, um sich gut zuzureden und sich nicht gar so alleine zu fühlen. Mit sich selbst mitzufühlen ist so wichtig, um nicht wieder einen neuen Kreislauf von Erniedrigung und Verurteilung zu geraten.

Soweit man sich zu Vertrauen „entschließen“ kann, ist es hilfreich, dies zu tun. Manchmal kann man hoffen, manchmal aber auch bewusst „aufgeben“, wobei ich hiermit meine, den inneren Kampf aufzugeben und in mitfühlender Weise zu resignieren.

Zeit

Das alles dauert unglaublich lange. Immer wieder ist da die Unsicherheit: „Werde ich es jemals schaffen?“. Manchmal fragt man sich vielleicht sogar: „Werde ich es überleben?“ Diese Angst, es nicht zu überleben, ist eine ganz alte Angst. Damals war man vielleicht tatsächlich in Lebensgefahr. Und heute drücken die Erinnerungen und Gefühle, sodass es bei älteren Menschen mit frühen Traumata tatsächlich zu Herzproblemen kommen kann. Die Angst vor dem Sterben ernst zu nehmen und die spürbare Sterblichkeit zu betrauern, ist ein wichtiger Schritt. Sich selbst zu akzeptieren und immer wieder zu schauen, wo man gerade steht, ist wichtig. Manchmal verlässt man sich selbst, aber es ist heilsam, zu sich zurückzukehren. Auch Musik kann helfen, z.B. „Schafe können sicher weiden“ von Bach (Youtube).

Eine kleinschrittige Kunst

Wenn Du Schrittchen für Schrittchen weitergehst und Deinen Körper „wie eine Wunde“ behandelst, wenn Du die beschädigten Ecken Deines Hauses anschauen und Licht hineinlassen kannst, ist es jedes Mal ein Gewinn. Und manchmal geht es oft erst einmal daran, überhaupt ein Haus zu bauen – nicht selten leiden schwer traumatisierte Menschen unter schwer beschreibbaren Bedrohungs- und Vibrationsgefühlen, unter namenloser Angst, unter „Ich-Attacken“ und einem Gefühl der Formlosigkeit und Verlassenheit. Ganz wichtig sind immer wieder andere gute Menschen, gute Düfte, eine gute Umgebung, Natur und ein ruhiger Geist. Manchmal hilft Schokolade, aber auch z.B. Yoga, das man am besten bei einem Lehrer im Einzelunterricht lernt.

Auch andere Meditationsformen (z.B. langsames Körperkennenlernen) sind hilfreich – egal, wozu Du Dich entscheidest: Wichtig ist das regelmäßige Üben. So kannst Du bei Dir nach und nach die „Unaufgeregtheit installieren“. Du brauchst nur noch weiter Geduld – auch, wenn Du schon Tonnen von Geduld bis hierher aufgebracht hast. Immer, wenn Du die Geduld verlierst, kannst Du sie eine Weile später bestimmt wieder aufnehmen.

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Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 19.9.2017
Aktualisiert am 19.7.2024

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4 thoughts on “Wenn die Mutter Dich schwer traumatisiert hat: Die Angst zur Entwicklung nutzen

  1. May sagt:

    Jeder Zeile möchte ich ein Ausrufezeichen setzen. So geht es mir, und noch anders. Das Dilemma ist, daß die Traumatisierung eine chronische Depression frühkindlich entwickelte, begleitet vom ADS. 50 Jahre später führte es zum Zusammenbruch und einem sehr mühsamen Weg daraus. Aber es lohnt sich, die Lebensqualität bessert sich.

  2. Dunja Voos sagt:

    LIebe Edith,
    und nun bin ich berührt von Ihren wunderbaren Zeilen.
    Vielen Dank dafür!
    Herzliche Grüße,
    Dunja Voos

  3. Edith sagt:

    Liebe Frau Voos,

    ihr Artikel hat mich sehr berührt! Er bringt -wie ich finde- sehr authentisch zum Ausdruck wie man sich als früh Traumatisierter fühlt. Es sind Gefühle wie man sie kaum in Worte fassen und der Verstand sie kaum begreifen kann. Entstanden in einer Zeit in der es wirklich um existentielle Themen ging, um Leben und Tod. Daher fühlt es sich zeitweise so intensiv und schrecklich an, das man glaubt es nicht aushalten zu können. Gleichzeitig konnte keine Urvertrauen entstehen, was eine innere Distanz und ruhige Beobachtung der Gefühle ermöglicht hätte. So blieb nur die Abwehr als einzige Überlebenstrategie. Das macht -aus meiner Sicht- die Heilung von frühen Störungen so schwer. Und es braucht von Seiten des Therapeuten viel Verständnis, Geduld und vor allem Hoffnung auf die gute der Kraft der inneren Flamme, die unzerstörbar ist, wie klein sie auch sein mag. Ich hoffe, dass wir alle, ob nun Patienten oder Therapeuten immer wieder den Kontakt zu dieser Flamme herstellen und so zu einer innerer Heilung auch tiefster Wunden finden! Nochmals danke für Ihren gefühlvollen Artikel!

    Liebe Grüße,
    Edith

  4. Kati sagt:

    Liebe Frau Voos,

    dieser Artikel ist wirklich sehr schön geschrieben!! Auch dieser Vergleich mit dem Haus gefällt mir gut!
    Ich habe zur Zeit ständig das Gefühl mein Inneres Haus bricht gleich zusammen aufgrund heftiger negativer Gefühle! Ich habe kein Sicherheitsgefühl in mir und kann mich in meinem „Haus“ gar nicht mehr wohlfühlen.
    Diese Angst und Traurigkeit verschlingen mich gerade!
    Fühl mich total hilflos! Und dieses Gefühl sich isoliert von anderen zu fühlen, auch wenn man unter Menschen ist kenne ich auch!
    Was kann man da denn tun?

    Meinen Sie, sie könnten mir diesen Artikel „Die Angst vor dem Zusammenbruch“ per Mail zusenden ? Ich kann ihn leider nicht öffnen!

    Liebe Grüße
    Kati

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