Übelkeit beim Sex – woher kommt das?
„Wie kommt das Baby in den Bauch?“ In der Vorstellung kleiner Kinder hat die Schwangerschaft oft noch irgendwie mit dem Verdauungstrakt zu tun, obwohl sie ahnen, dass es noch ein anderes System gibt für Befruchtung, Schwangerschaft und Geburt. Wenn Kinder Szenen beobachten, die an Sexuelles erinnern (z.B. Geburten im Fernsehen), wird es ihnen manchmal übel. Auch als Erwachsene spüren wir die enge Verbindung von Magen-Darm- und Reproduktionstakt – rein körperlich, aber auch psychisch. Wenn wir dazu noch sexuellen Missbrauch oder Gewalt erfuhren, können Berührungen rasch Übelkeit in uns auslösen. Unsere (un-)bewussten Phantasien entstehen unter anderem durch körperliche Empfindungen und durch Erinnerungen. Viele sind ein Leben lang aktiv und allein schon manche Phantasie kann uns Übelkeit verursachen. Doch die Übelkeit beim Sex lässt sich auch mit dem Nervus vagus erklären.
Sexualität und Gefühle im Magen hängen eng zusammen. Schließlich ist auch die Regelblutung häufig mit Übelkeit oder Durchfall verbunden und bei der Entbindung müssen sich viele Frauen übergeben, denn die glatte Muskulatur von Gebärmutter und Magen-Darm-Trakt beeinflussen sich gegenseitig. Wenn wir verliebt sind, haben wir Schmetterlinge im Bauch und wenn wir schwanger sind, leiden wir vielleicht an Schwangerschaftsübelkeit. Weitere Zusammenhänge zwischen Sexualität und Verdauung zeigen sich manchmal in der Psychotherapie magersüchtiger Mädchen, die sich oft erleichtert fühlen, wenn ihnen mögliche Zusammenhänge zwischen Nahrungsaufnahme und sexuellen Phantasien bewusster werden.
Durch den Reiz, den erweiterte Blutgefäße, die erweiterte Blase, die Vagina während des Geschlechtsverkehrs oder ein aufgeblähter Darm setzen, kann der Nervus vagus (der 10. Hirnnerv) gereizt werden – Übelkeit und Ohnmacht können die Folge sein. Dies wird auch als „vasovagaler Reflex“ bezeichnet.
„Your cervix has lots of nerve endings that can trigger a vasovagal response. A vasovagal response is when the body stimulates the vagus nerve. This results in lower heart rate and blood pressure, which can cause you to feel faint and nauseated.“ (Rachel Nall, 21.11.2019)
https://www.healthline.com/health/healthy-sex/nausea-after-sex#vasovagal-response
Übersetzt von Voos: „Dein Gebärmutterhals enthält viele Nervenendigungen, die eine vasovagale Antwort auslösen können. Eine vasovagale Reaktion entsteht, wenn im Körper der Nervus vagus stimuliert wird. Dadurch kommt es zu einer verringerten Herzfrequenz und einem niedrigeren Blutdruck, was das Gefühl von Ohnmacht und Übelkeit auslösen kann.“
Berührung schlägt auf den Magen
„Wenn der mich nur anfasst, wird mir schlecht.“ Vielleicht kennst Du das auch, dass Dir allein die Berührung eines anderen Übelkeit bereiten kann. Um Dir Platz zu schaffen, möchtest Du am liebsten kotzen. Zärtlichkeit lassen wir eben nur gerne zu, wenn der andere uns sympathisch ist und wenn es uns gut geht. Ansonsten zuckt der Magen zusammen wie eine Amöbe: Wenn man sie berührt, wendet sie sich – je nach Umstand – ab (siehe www.william-hogarth.de/Amoebe). Bereits die sexuelle Erregung kann zu Übelkeit führen. Sex ist vegetativ: Das sympathische und parasympathische Nervensystem müssen genau aufeinander abgestimmt sein, damit es zum Orgasmus kommen kann.
Die Frau ist diejenige, die beim Sex körperlich etwas „aufnimmt“, daher wäre es gut vorstellbar, dass bei ihr die Übelkeit während des Beischlafs häufiger vorkommt als beim Mann.
Wie wir als Kinder angefasst und berührt wurden, wie wir gewickelt, gebadet, gestillt, gestreichelt wurden – all das kann als Gefühlsmischung in Körper und Seele abgespeichert sein. Wer als Kind oder Jugendliche/r von einem Betrunkenen betatscht wurde, weiß meistens noch genau, wie ekelhaft sich das anfühlte – egal, wie lange es her ist. Das Gefühl der verschiedenen erlebten Berührungen ist uns ganz nah, wenn wir daran denken. Manche könnten da eine Erinnerungslandkarte auf ihrem Körper einzeichnen. Wenn es zum Sex mit dem Partner kommt, sind je nach Verfassung viele unserer Vorerfahrungen mit dabei.
Es gibt Hinweise darauf, dass der 10. Hirnnerv (Nervus vagus), der für die Verdauung zuständig ist, auch aktiv ist bei der Stimulation von Vagina und Cervix (Gebärmutterhals). (Frei übersetzt von Voos:) „Die MRT-Befunde unterstützten die Hypothese, dass der Nervus vagus auch sensorische Fasern aus den weiblichen Genitalien enthält (Komisaruk, Whipple, Crawford, et al., 2004).“ (Barry R. Komisaruk, Carlos Beyer-Flores, Beverly Whipple: The Science of Orgasm. The Johns Hopkins University Press, Baltimore, 2006: S. 206/207).
Was tun?
Wer an Übelkeit im Zusammenhang mit Sexualität leidet, ist oft verunsichert, denn das Symptom lässt sich nur schwer steuern. Hier kann man sich nur auf die innere Suche begeben und sich fragen: Möchte ich mit diesem Partner zusammen sein? Geht es mir gut oder fühle ich mich gerade insgesamt schlecht? Was habe ich als Kind erlebt und was erinnert mich nun möglicherweise jetzt daran? Yoga, Bewegung und Meditation können insgesamt helfen, das vegetative Nervensystem zu stabilisieren. Auf der Website der bekannten Sexualtherapeutin Ann-Marlene-Henning, doch-noch.de, finden sich viele Antworten zu vielen interessanten Themen.
Spezialthema Vojtatherapie: Wenn Du als Baby die Vojtatherapie erhalten hast, kannst Du recht schnell an Übelkeit leiden. Vielleicht wurdest Du auf dem Küchentisch behandelt und vielleicht erlebtest Du die Brüste Deiner Mutter über Dir als zu nah und abstoßend. Vielleicht konntest Du nie Worte für solche Bilder finden und vielleicht deutet die Übelkeit auf solche Zusammenhänge in der Vergangenheit hin.
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Links:
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https://www.thesexualhealthhub.co.uk/faqs/can-i-get-pregnant-by-swallowing-semen-during-oral-sex/
„In addition, we propose a neuroendocrine mechanism underlying sexual response and orgasm. The latter includes vaginocervical sensory pathways to the brain that can produce analgesia, release oxytocin, and/or bypass the spinal cord via the vagus nerve. We present evidence of the existence of non-genital orgasms, which suggests that genital orgasm is a special case of a more pervasive orgasmic process.“ Barry R. Komisaruk and Beverly Whipple (1998):
Love as sensory stimulation: Physiological consequences of its deprivation and expression.
Psychoneuroendocrinology, Volume 23, Issue 8, November 1998, Pages 927-944
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.11.2016
Aktualisiert am 5.5.2024