Reizdarm – auch ein Beziehungsproblem

„Der Druck kommt immer dann, wenn ich vor einer Verpflichtung stehe oder wenn ich in eine Situation komme, in der etwas Bestimmtes von mir erwartet wird – und sei es nur, während eines Gespräches nicht aufs Klo gehen zu dürfen. Der Stuhldrang taucht unaufhaltsam in mir auf.“ So beschreiben manche ihre Reizdarmbeschwerden. Die Durchfälle schränken das Alltagsleben stark ein. Vielleicht kennst Du das auch: Wenn Du jemandem gegenüber stehst, um Dich mit ihm zu unterhalten, merkst Du, wie es in Deinem Bauch arbeitet. Vielleicht hattest Du schon beim Aufwachen dieses Rumor-Gefühl. Wie soll man erklären, dass man schnell weg muss? Das Reizdarmsyndrom ist eine Qual – und hängt eng mit engen Beziehungen zusammen.

„Der andere ist für mich manchmal wie eine Mauer. Er baut sich vor mir auf, stellt Forderungen, erwartet etwas von mir. Der Druck, den ich spüre, wenn ich mit jemandem zusammen sein muss, ist unglaublich groß“, erzählt eine Betroffene. Vor ihr die Wand. Die Wand aus Erwartungen und Forderungen. Und hinter ihr der mögliche Ausgang: Der Durchfall wird kommen wie Montezumas Rache. Das Gespräch wird unmöglich, die Arbeitswelt zum Drama. Du fühlst Dich gefangen, sobald Du „parat“ sein musst – und sei es nur gegenüber Deinem eigenen Kind oder Partner. Sobald der Uhrzeiger die volle Stunde anzeigt und Du „funktionieren“ musst, funktionierst Du eben nicht mehr.

Vielleicht fühlst Du Dich aufgrund Deines Reizdarms wie gefangen in der Beziehung. Hättest Du keine Beschwerden, wäre alles gut. So aber hast Du vielleicht das Bild, dass der andere Dich anstarrt und ganz viel von Dir erwartet. Selbst, wenn Du Dir klarmachst, dass es nicht so ist, fühlt es sich so an. Schließlich ist es jedoch nicht die Beziehung, die Dich gefangen nimmt, sondern der eigene Durchfall, der Dich zum Weglaufen zwingt. Es scheint keinen Ausweg zu geben. Besonders schlimm ist es oft in Beziehungen, die sehr eng sind. „Ich traue mich gar nicht, meinem Partner zu sagen, dass ich schon wieder auf’s Klo muss“, sagt eine Betroffene. Eine junge Frau sagt: „Ich versuche immer, die Therapiesitzung durchzustehen, ohne auf die Toilette zu müssen.“

„Ich könnte jetzt auf Klo gehen – wenn da nur nicht der andere wäre.“

„Ich komme nicht pünktlich weg“

Manchmal sitzt Du vielleicht auf der Toilette und kommst nicht pünktlich weg. So wie andere nachschauen, ob der Herd aus ist, fragst Du Dich ständig, ob Du nicht doch nochmal lieber zur Toilette gehst. Du merkst vielleicht, dass Du andere Menschen einfach abstoßen willst – Du willst niemanden in Deiner Nähe haben wie bei einer schweren Verletzung oder Krankheit. Es gibt viele psychologische Erklärungen, doch mir scheint, dass körperliche Probleme beim Reizdarm vorrangig sind. Anspannung, Zeitnot und Verpflichtungen verschärfen das Problem.

Psychologisch wird manchmal gesagt, es falle den Betroffenen schwer, ihre Gefühle wahrzunehmen und „aus-zu-drücken“. Auch wenn Psychotherapie kurzfristig helfen mag, so kommt das Problem doch oft zurück. Die vielen Arztbesuche bringen nur selten wirkliche Besserung. Das System „Reizdarmsyndrom“ ist hochkomplex. „Wenn ich Streit mit jemandem habe, habe ich keinen Durchfall“, sagt eine Betroffene. Hier zeigt sich, wie Aggressionen und Darmtätigkeit zusammenhängen können. Es kann viel schwieriger sein, eine gute Beziehung zu haben, in der Du dem anderen gefallen möchtest, als eine offen aggressive Beziehung, in der eh schon alles egal ist. In der guten Beziehung möchtest Du vielleicht auf gar keinen Fall zum falschen Zeitpunkt zur Toilette müssen.

Psychische Entlastung beruhigt den Darm

Viele Reizdarm-Betroffene haben ein zu großes und dichtes Pensum an Verpflichtungen. Der Reizdarm kann sich nur bessern, wenn es mehr Raum gibt, vor allem morgens. Da kann manchmal nur helfen: „Warten, bis die Kinder älter sind oder die Rente kommt“, so denkt man sich. Der gereizte Darm ist einerseits das Ergebnis von Stress und noch nicht passender Ernährung – andererseits ist er ein sogenanntes „Affektäquivalent“, das heißt, der Durchfall tritt zusammen mit einem Affekt oder anstelle eines Affektes auf. Psychische Spannungen zeigen sich meistens an der körperlich schwächsten Stelle. Das Völlegefühl oder der Durchfall können das Äquivalent sein für eine psychische Not, für ein inneres Aufgeregtsein. Innen bist Du „voll“ – voll von Ängsten und anderen Affekten.

Das Reizdarmsyndrom kann auch mit einer Sozialen Phobie zusammenhängen: Der Reizdarm führt zur Sozialphobie oder aber die Sozialphobie führt zum Reizdarm. Die Therapie kann auf beiden Seiten beginnen.

Etwas loswerden

Manchmal willst Du vielleicht einen anderen „los-werden“, das spürst Du ganz deutlich. Der Durchfall kann trotz aller Qual auf einer bestimmten Ebene auch eine Entlastung sein – das Alleinsein auf der Toilette wird erzwungen. Du kannst nicht anders. Du musst Dich von etwas Quälendem befreien. Dann kann diese Frage hilfreich sein: Muss die Toilette zum einzig möglichen Privatraum werden? Die innere Anspannung in der Beziehung zum anderen übersetzt sich direkt in den Darm. Wie kann es Dir gelingen, in der Beziehung Privaträume für Dich allein zu schaffen?

Vielleicht kannst Du innere Bilder finden, die Dir helfen, mit dem Reizdarmsyndrom besser zurechtzukommen.

  • Stelle Dir einen inneren Garten oder Privatraum vor, in dem Du ganz für Dich sein kannst.
  • Lerne, in einer guten Form zu sagen, dass Du jetzt zur Toilette gehen musst.
  • Stelle Dir vor, dass sich zwei Menschen verabreden und sich dabei wohlfühlen können, weil sie sich gegenseitig in Ruhe und in Freiheit lassen.
  • Oft hilft auch der Gedanke an etwas Drittes: Wenn ich weiß, dass heute Nachmittag etwas Schönes passiert, fällt es mir vielleicht leichter, den Druck, den ich jetzt gerade spüre, besser zu tolerieren.

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Links:

Empfohlene Psychotherapieverfahren:
„Einige psychotherapeutische Verfahren wurden überprüft und können empfohlen werden. Bewährt haben sich verhaltenstherapeutische Kombinationsverfahren, psychoanalytische Kurzzeittherapie, kognitive Verhaltenstherapie, progressive Muskelentspannung und die Hypnotherapie.“
Jürgen Hotz et al.: Das Reizdarmsyndrom: Definition, Diagnosesicherung, Pathophysiologie und Therapiemöglichkeiten. Dtsch Arztebl 2000; 97(48)

Giulia Enders: www.darm-mit-charme.de

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 10.8.2012
Aktualisiert am 16.3.2024

3 thoughts on “Reizdarm – auch ein Beziehungsproblem

  1. Dunja Voos sagt:

    Vielen Dank, liebe Annabanana, für Ihren wertvollen Beitrag!

  2. Annabanana sagt:

    Hallo Neske & alle anderen, die sich bei diesem Blog Eintrag angesprochen fühlen.. ich fühle mich ähnlich und bin so froh diese Seite entdeckt zu haben, in der das Thema Nähe und Reizdarmsyndrom betrachtet wird. Ich wusste schon immer, dass es mir einem Druck, einer sozialen Erwartungshaltung einhergeht, weil bei mir die Symptome oft nur in bestimmten Situationen eintraten.
    Das mit dem Anruf kann ich gut nachvollziehen, mein Darm reagiert auch blitzschnell, wenn Besuche sich ankündigen oder Dates (das ist das Schlimmste). Die einzigen Menschen, bei denen ich in der schlimmsten Zeit keine Symptome hatte, waren meine Familienmitglieder – zumindest wenn es grundsätzlich harmonisch zuging.
    Jetzt ist es besser geworden, v.a. weil ich an meiner Psyche /Selbstvertrauen arbeite. Trotzdem hatte ich bei der Arbeit beim Team Meeting auch grundsätzlich immer Symptome.
    Ich wünsche mir mehr Forschung in diesem Gebiet und mehr Tipps für Betroffene.
    @Neske was machst du gegen deine Beschwerden?
    Liebe Grüße

  3. Neske sagt:

    Ich schildere hier jetzt zum Thema „Reizdarm“ eine Situation aus meinem Alltag :
    Alles begann ganz harmlos. Mein Telefon funktionierte nicht , ich konnte keine Gespräche empfangen. Ich rief bei meinem Anbieter an und bat um Hilfe. Der Techniker am anderen Ende der Leitung erzählte mir irgendwas von „Konfiguration meines Routers“ und von „Nächtlichen Angriffen auf meinen Router“ – alles keine Gründe zur Besorgnis, wie er mir versicherte. Allein die Tatsache, dass ich von dem, was der Mann mir erzählte, null Ahnung hatte (ist auch nicht mein Aufgabengebiet!), genügte, um bei mir Durchfälle auszulösen. Mein Hirn war wie zugekleistert, ich WOLLTE das verstehen konnte aber nicht. Mir haben nicht etwa die „Nächtlichen Angriffe auf meinen Router“ Angst gemacht sondern alleine der Umstand, dass ich von alledem keine Ahnung habe und da nicht durchblicke. Eine innere Stimme flüsterte mir zu : „Wenn du nur intelligent genug wärst, dann könntest du verstehen, um was es da geht!!!“ .
    Ich habe Stunden gebraucht, um mir darüber im Klaren zu werden , dass ich den ganzen Technikkram gar nicht verstehen MUSS, weil ich kein Techniker bin sondern einfach nur jemand, der technische Hilfe benötigt. Meine Talente liegen auf anderen Gebieten.
    Kurz gesagt: ich hatte mich gedanklich völlig überfordert. Als mir klar wurde, dass ich unmöglich alles wissen (können) kann und auch nicht alles wissen (können) muss, ging es mir besser.
    Mein Bauch hat schneller re-agiert als mein Kopf. Das hat sich im wahrsten Sinne des Wortes „Scheiße“ angefühlt.

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