Gemeinsames Sorgerecht – ja oder nein?
Während Mutter und Vater es haben, erscheint es beiden manchmal wie die Hölle: das gemeinsame Sorgerecht. Obwohl eigentlich über nur wenige Punkte gemeinsam entschieden werden muss, können diese Punkte zu aufwühlenden Dramen führen. „Die Mutter stellt das Kind mit Ritalin ruhig, aber ich will das nicht“, sagt der Vater. „Der Vater besucht mit meinem Kind eine radikal-christliche Gemeinde – das geht nicht!“, sagt die Mutter. Über Monate und Jahre sind Mütter und Väter manchmal mit einem inneren und äußeren Kampf beschäftigt, der viel Kraft kostet. Es ist genau die Kraft, die ihnen für das Kind fehlt. Wäre es da nicht einfacher, wenn man das alleinige Sorgerecht hätte? Denkt der Vater. Und die Mutter. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Das alleinige Sorgerecht – eine Verlockung
Während man in einem kraftraubenden Kampf steckt, ist die Vorstellung, das alleinige Sorgerecht zu haben, so verlockend. „Der Kampf um das alleinige Sorgerecht kann sich möglicherweise über Jahre hinziehen“, sagt die Familienrichterin. „Ist mir egal“, sagt die Mutter. „Ich will einfach nur aus dieser Hölle raus, aus diesem Zwang, mich mit meinem größten Feind über mein Kind verständigen zu müssen.“ Verzweifelte Sätze wie diese hören Anwälte und Richter ständig. Besonders wenn Mutter oder Vater einen Anwalt kontaktieren, erscheint es sehr verlockend, das alleinige Sorgerecht zu beantragen. „Dann ist endlich Ruhe im Karton“, so denkt sich die Mutter. Und der Vater.
Das Sorgerecht ist ein Symbol
Sowohl die Mutter als auch der Vater fühlen sich – wenn alles gut geht – zutiefst mit dem Kind verbunden. Es ist ihr „Fleisch und Blut“. Das Kind ist das Herzblut der Mutter und des Vaters. Viele Väter kämpfen bis zum Rande der Erschöpfung um eine gute Bindung zu ihrem Kind, die ihnen oft so erschwert wird. Bindung ist nicht nur eine Frage der „Qualitätszeit“, sondern ganz besonders auch der Menge an Zeit, die man miteinander verbringt.
Für Väter ist es sowieso schon schwer, die Bindung zu ihrem Kind zu halten – wenn ihnen dann noch das Sorgerecht entzogen wird, sind sie erst recht „in Sorge“. Es macht wütend und ohnmächtig. Mit dem Entzug der „Sorge“ wird auch ein wichtiges Bindeglied gekappt. Es fühlt sich vollkommen unnatürlich an, sich für den Menschen, der einem näher ist als jeder andere auf dieser Welt, nicht mehr einsetzen zu können. Ist das Sorgerecht entzogen, kann der Vater das Kind nicht mehr beschützen – so sein Gefühl. Das Sorgerecht als Symbol der natürlichen Verbindung zu kappen bedeutet, auch innerlich einen Bruch in der Beziehung zum Kind herbeizuführen.
Die Mutter ist eingeschnürt
Auch viele Mütter bangen darum, dass ihnen das Sorgerecht entzogen wird. Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass Väter eine ebenso enge Bindung zu ihren Kindern aufbauen wie Mütter (siehe www.khbrisch.de). Und doch sind Mütter gerade in der Anfangszeit durch das Erleben der Schwangerschaft und Stillzeit auf eine gewisse Art noch enger mit dem Kind verbunden. Das Attunement zwischen Mutter und Kind ist gerade am Anfang oft erstaunlich.
In einer gesunden Beziehung würde der Vater die Mutter darin unterstützen, diese enge Bindung zum Kind zu pflegen. Nach einer Trennung jedoch empfinden sich Mutter und Vater als Feinde. Der Vater scheint mit seinen Wünschen und Einwänden immer in die Harmonie zwischen Mutter und Kind zu preschen. Das empfinden die Mütter als unglaublich störend und auch die Kinder leiden darunter, weil die Mütter in der Zeit der Auseinandersetzung mit dem Vater emotional nicht ansprechbar sind. Die Vorstellung, allein mit dem Kind sein zu dürfen, also ohne Mitspracherecht des Vaters, erscheint den Müttern zunächst wie der Himmel auf Erden.
Der Zeitpunkt der Konflikte
Interessant ist, dass oftmals die Frage um das Sorgerecht in einer bestimmten Entwicklungsphase des Kindes auftaucht: Häufig im Alter von 2 bis 6 Jahren. Aus analytischer Sicht durchläuft das Kind in dieser Zeit die Entwicklungsstufe der Ödipalen Phase. In dieser Zeit wird das Thema Triangulierung besonders aktuell. Das Kind fühlt sich mal mehr zum Vater, mal mehr zur Mutter hingezogen.
Die Gefühlswelt der Eltern
Die Eltern kämpfen besonders während der ödipalen Phase des Kindes mit den Gefühlen der Eifersucht: „Ich tue den ganzen Tag alles für mein Kind und doch will es nur zum Papa“, klagt die Mutter. Das Kind ist innerlich wiederum damit beschäftigt, Vater und Mutter seine Liebe zu zeigen. Der häufig genannte „Loyalitätskonflikt“, der bei Trennungen auftaucht, taucht auch in der gesunden Mutter-Vater-Kind-Beziehung auf. Während der Trennungszeit wird er nur verschärft, aber er lässt sich nicht verhindern. Der Anspruch, keinen Loyalitätskonflikt aufkommen zu lassen, steckt oft hinter dem erhobenen Zeigefinger der Jugendamtsmitarbeiter, Erzieher, Psychologen, Anwälte und Richter. Aber dieses Idealbild wird sich in der Wirklichkeit nicht herstellen lassen.
Der Kampf dauert nicht ewig
In der Zeit des Kampfes mit dem anderen Elternteil erscheinen wenige Tage manchmal wie eine Ewigkeit. Doch die Sorgen, die inneren und äußeren Kämpfe werden nicht ewig dauern – sondern „nur“ ein paar Jahre. Und auch häufig „nur“ in bestimmten Phasen. „Bei uns ist es aber anders – da ist es besonders extrem“, denken viele Mütter und Väter in dieser Zeit. Es fühlt sich unter anderem so extrem an, weil Mutter und Vater trotz aller Hilfsangebote häufig nicht gut genug aufgefangen werden. Die Endlichkeit dieser aufwühlenden, oft krankmachenden Situation darf man sich aber dennoch ruhig vor Augen führen.
Psychotherapie kann entlasten
Besonders der Mutter hilft es in dieser Zeit oft, sich von einem Psychotherapeuten begleiten zu lassen. So ist sie mit ihren Entscheidungen, Sorgen und Ängsten nicht allein und stellt so etwas wie eine Triangulierung im Alltag her. Nach einigen Jahren lassen die Kämpfe oft tatsächlich wieder nach. Manchmal gibt es dann sogar wieder Situationen, in denen der andere Elternteil als Entlastung oder Schutz empfunden werden kann. Das alleinige Sorgerecht zu beantragen, mag für den Moment wie die beste Lösung erscheinen. Auf Dauer hören die Kämpfe jedoch oft nicht auf. So sagt eine Frau, die im Familiengericht als Übersetzerin arbeitet:
„Häufig treffen sich Mutter und Vater im Sorgerechtsstreit und auch danach viele Jahre lang vor Gericht. In all den Jahren ändert sich nichts – außer, dass die Kinder älter werden.“
Was in der anstrengenden Zeit der Kämpfe helfen kann:
- Gesund bleiben ist oberstes Gebot.
- Innerer Raum ist wichtig. Nicht sofort reagieren, sonst fliegen die Mails, SMS und Vorwürfe nur so hin und her. Raum schaffen zum Überlegen. Spannung aushalten lernen.
- Hinter der Entwertung des anderen stecken oft Gefühle, die man nicht spüren will. Es kann hilfreich sein, sich auf die Suche nach den Gefühlen hinter der Entwertung zu begeben. Das schafft man oft leichter in einer psychoanalytischen Therapie.
- Wenn man einmal in das „Gefühl der Dringlichkeit“ hineinspürt und versucht, das auszuhalten, merkt man, wie es wieder nachlässt.
- Einen größeren Zeitraum im Blick zu behalten, hilft. Es ist nicht alles verloren, wenn man jetzt gerade Schaden nimmt.
- Sich mit guten Menschen umgeben.
- Sich von Idealbildern verabschieden.
- Sich Zeit nehmen, zu trauern.
- Langsam werden und immer nur auf den nächsten Schritt schauen.
- Sich Kraft in der Natur holen. Barfuß über die Wiese laufen. Schwimmen gehen und das Wasser dabei beobachten. Immer wieder die „Stressachse“ (HPA-Achse) entlasten.
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Diesen Beitrag habe ich erstmals veröffentlicht im November 2014.
Aktualisiert am 8.6.2015
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In einer für mich und mein Kind furchtbaren Zeit haben Ihre Zeilen einen erfrischenden Effekt. Vielen Dank!