Angststörung: Ängste kommen ohne vorherige Bewertung
„Immer wieder überfallen mich meine Ängste“, sagt eine Angstpatientin. „In der Klinik habe ich gelernt, dass es etwas damit zu tun haben muss, dass ich eine Situation fälschlicherweise als gefährlich bewerte, obwohl sie es nicht ist. Auch meine körperlichen Symptome bewerte ich dann als etwas Schlimmeres, als sie sind.“ Diese Erklärung kam mir immer unlogisch vor. Entscheidend ist doch die „innere Gefahr“. Mag sein, dass die Angstattacken in dem einen oder anderen Fall etwas mit „Bewertung“ zu tun haben. Meistens kommen die Ängste jedoch so schnell und unvermittelt, dass ich nicht glaube, dass es irgendetwas mit „Bewertung“ zu tun hat.
Oder anders gesagt: Es handelt sich meistens wahrscheinlich nicht um eine „bewusste“ Bewertung. Häufig haben die Betroffenen vorher unbewusst etwas gefühlt oder gedacht, bevor die Angst auftrat. Bei manchen Menschen tritt eine Angstattacke dann auf, wenn sie vorher Ärger verspürt, aber diesen dann nicht zugelassen haben. Auch andere unbewusste Vorgänge können sich vor einer Angstattacke abspielen: Neid, sexuelle Phantasien oder Wünsche nach Unabhängigkeit sind nur wenige Beispiele. Irgendetwas in der aktuellen Situation ruft diese unbewussten oder halbbewussten Vorgänge hervor – ein Geruch, eine bestimmte Situation mit einem anderen oder ein bestimmtes Bild. Und dann gibt es sozusagen einein Selbstläufer, einen „Autorun“ im Inneren, der nicht viel mit bewusster Bewertung zu tun hat.
Das autonome Nervensystem spielt eine große Rolle
„Plötzlich hatte ich wieder diesen furchtbaren Durchfall“, sagt ein Patient. „Immer bekomme ich Atemnot in Momenten, in denen ich es mir gar nicht erklären kann“, sagt eine Bekannte. Bei Ängsten reagiert der Körper immer mit. Hier spielt das autonome Nervensystem eine große Rolle. Hierfür gibt es verschiedene Erklärungsmodelle. Ich finde die Polyvagal-Theorie von Professor Dr. Stephen W. Porges interessant. Hiernach ist der Nervus vagus, also der 10. Hirnnerv, sowohl am sozialen Geschehen als auch an den körperlichen Reaktionen beteiligt. Sehr gut erklärt ist die Polyvagaltheorie auf der Website des Schweizer Kinderarztes Dr. med. Cyril Lüdin.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.10.2014
Aktualisiert am 3.5.2015
One thought on “Angststörung: Ängste kommen ohne vorherige Bewertung”
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Ich bekam im Jahr 2004, nach einigen gravierenden Schicksalsschlägen eine generalisierte Angststörung.
Es war der absolute Horror. Die Angst war von morgens bis abends omnipräsent und undurchdringlich.
Ich hatte Angst, verrückt zu werden, in die Psychiatrie zu müssen, die Kontrolle zu verlieren – vor allem hatte ich Angst vor mir selbst.
Hinzu kamen Derealisationen. Ich schaute in ein mir vertrautes Zimmer und es kam mir fremd und bedrohlich vor.
Ich befand mich in einem akut entrückten, mir gefährlich erscheinenden Bewusstseinszustand.
Dazu konnte meine damalige Freundin meinen angeschlagenen Zustand nicht akzeptieren und machte mir Druck, ich solle mich doch endlich mal „am Riemen reißen“, was alles nur noch schlimmer machte.
Manchmal wachte ich nachts mitten in einer Angstattacke auf.
Dann starrte ich durch mein Fenster, vom Bett in die dunkle Nacht hinaus. Ich bekam Angst, die Kontrolle zu verlieren und aus dem Fenster zu springen. Nicht, dass ich suizidal gewesen wäre, es war nur die Angst vor dem Kontrollverlust. Einmal habe ich geträumt, es wäre ein Loch im Fenster, welches mich mit gewaltiger Kraft nach draußen saugen wollte.
Ich wandte mich zunächst an meinen Hausarzt, welcher mir Benzodiazepine verschrieb um damit „auf die Angst zu schießen“.
Nach zwei Packungen hatte ich genug und suchte eine Psychiaterin auf, welche mir Opipramol verschrieb, was mich auch nicht weiter brachte.
Im Gegenteil: Ich hielt Opipramol für ein eigentlich gut wirksames Medikament und dachte, dass ich so sehr erkrankt wäre, dass mir selbst ein Antidepressivum nicht mehr helfen würde – was meine Angst nur noch weiter wachsen ließ. Ein richtiges Antidepressivum sollte ich erst Jahre später in Form von Venlafaxin kennen lernen.
Leider war ich in dieser Zeit vor allem abends dem Rotwein sehr zugetan, um mir eine Bettschwere anzutrinken. Zusätzlich rauchte ich vierzig Zigaretten am Tag (heute rauche ich nicht mehr und trinke nicht).
Mittlerweile bin ich relativ angstfrei, wozu natürlich auch die Medikamente beitragen, aber
ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Angstgefühle mit der Zeit abnutzen und ihre Schärfe verlieren. Das macht Mut. Irgendwann habe ich mit meiner Angst geredet. Wenn ich merkte, es geht los, dachte ich mir: „Da kommt er wieder, der alte Affe Angst. Soll ich ihn direkt auslachen oder mir erstmal anhören, womit er mich nun wieder erschrecken will?“