„Komm mal aus der Opferrolle raus“
Vielleicht hören wir dann und wann die Aufforderung: „Komm mal aus der Opfferrolle raus!“ Oder aber wir sagen: „Ich bin doch kein Opfer!“ In jedem Fall scheint der Umgang mit dem Begriff „Opfer“ problematisch zu sein. Wir fragen uns vielleicht: Warum kann der eine, der scheinbar nur geringe Probleme hat, nur jammern, während der andere seine Welt positiv erlebt, obwohl er es von außen betrachtet schwerer im Leben hat? Am Anfang des Lebens steht die enge Beziehung zu Mutter und Vater. Und von dieser frühen Beziehung hängt unser weiteres Leben entscheidend ab.
Wenn Mutter und Vater ihr Kind nicht überwiegend wohlwollend anblicken, wenn sie selbst psychisch leiden, wenn sie nicht ausreichend zur Verfügung stehen oder gar das Kind missbrauchen und gewalttätig strafen, dann leidet das Kind unter einem ungeheuren Druck, aber auch unter einer großen inneren Einsamkeit. Die wunden Stellen, die in unserer Kindheit entstanden sind, sind von außen betrachtet oft nicht sichtbar. Dennoch arbeitet das Erlebte in uns weiter.
Fehlende Zeugen, fehlendes Mitleid
Manchen Kindern geschieht subtil oder offen sehr großes Leid. Wenn sie keine verlässliche Bezugsperson um sich herum finden, dann gelingt es ihnen nur noch schwer, die Welt rosig zu sehen. Möglicherweise hat ein Kind ein Trauma erlitten, über das es erst Jahrzehnte später sprechen kann. Niemand ist da, dem es sich anvertrauen kann. Und so trägt es ein Geheimnis mit sich herum, von dem niemand etwas ahnt.
Es ist möglich, dass uns manche Erlebnisse nur wie ferne Bilder im Kopf sind – diese Bilder können aber nicht in Worte gefasst werden. Wir kommen vielleicht noch nicht einmal auf die Idee, darüber zu sprechen. Stattdessen kann sich der Körper mit den verschiedensten Beschwerden melden.
Die Sehnsucht nach Mitgefühl und Aufgefangenwerden bleibt. Das kann zur Folge haben, dass sich das schwer traumatisierte Kind zu einem Erwachsenen entwickelt, der ständig versucht, sich das Mitleid „abzuholen“, das er bisher immer vermisst hat. Aber das Mitleid und die Rücksicht der anderen bleibt wirkungslos, weil das wahre Gehaltenwerden ausbleibt. Anderen – und auch dem Betroffenen selbst – erscheint es irgendwann absurd, dass es scheinbar immer einen Grund zum Jammern und Klagen gibt.
Erst eine gute Therapie bringt die Lösung
Oftmals wendet sich das Blatt erst in einer Psychoanalyse. Erst, wenn der Betroffene ausreichend Vertrauen zum Therapeuten gefasst hat (und das kann äußerst lange dauern), gelingt es ihm, das Erlebte zu verstehen. Erst dann findet der Betroffene auf einmal einen Ansprechpartner, einen Zuhörer und zugleich nachträglichen Zeugen. Mit der Offenbarung des Erlebten erfährt der Patient endlich den Trost, den er immer gesucht hat.
Auf einmal ist alles anders
Betroffene, die ihre Erlebnisse mit einem Psychotherapeuten oder Psychoanalytiker bearbeiten können, verändern sich oft sehr. Sie treten wortwörtlich aus der Opferrolle heraus. Der Betroffene findet eine neue Mitte. Er muss nicht länger zwischen dem Opfer- und Tätersein hin- und herpendeln. Denn allzu leicht wird ein Opfer auch zum Täter, wenn ihm nicht geholfen wird. Und wenn das Opfer nicht „offen“ zum Täter wird, dann richtet es seine Aggressionen gegen sich selbst. Ängste, Depressionen, Unfälle, Arbeitsplatzverlust, Scheidung und vieles mehr kann aus solch einer Autoaggression entstehen. Auch Operationen, die gar nicht notwendig wären, lassen diese Opfer über sich ergehen. Somit sind sie erneut Opfer. Aber auch Täter gegen sich selbst.
Sie spüren die Wut gegen das, was ihnen geschehen ist. Gleichzeitig fühlen sie sich irgendwie schuldig für ihre aggressiven Regungen und möchten sich selbst dann bestrafen, um ihr Schuldgefühl loszuwerden. Erneut werden sie dann zum Opfer – sozusagen zum Opfer ihrer selbst. Wird dieser Kreislauf durch eine gelungene Therapie durchbrochen, ändert sich für den Betroffenen und auch für seine Umwelt häufig sehr viel.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 27.3.2010
Aktualisiert am 15.9.2021
3 thoughts on “„Komm mal aus der Opferrolle raus“”
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Hallo Frau Voos,
ich empfinde das Konzept der Zeugenschaft als etwas was ich theoretisch nachvollziehen kann aber praktisch habe ich dazu einen sehr ambivalenten Bezug.
Wenn in einer Gruppentherapie ein Gruppenmitglied schon in der ersten oder zweiten Sitzung zu jemandem sagt „zum Glück bin ich als Kind nicht derart falsch abgebogen wie…“ und sich dieses Narrativ in der Gruppe virulent etabliert und der Therapeut oder die Therapeutin dann beispielsweise auch noch abstrakt darauf rekurriert, dass es ja Menschen gibt, die ein Helfersyndrom hätten, die dann alles dafür täten, das in ihrer Umgebung Dinge passieren, die sie als Helfer aktivieren würden und genau dies dann ob des Narrativs in der Gruppe sofort auf fruchtbaren Boden fällt, um dann wieder der besagten Person mitzuteilen, sie würde grundsätzlich alles absichtlich selbst provozieren, dann ist meines Erachtens das Konzept der Zeugenschaft, zumindest wenn diese Dynamik in der Gruppe über sehr lange Zeit stattfindet, gescheitert.
In einem solchen Fall findet ja exakt das statt, was im normalen Leben ebenso stattfindet. Man hat das Gefühl das aussen, im Beispiel die Gruppe, definiert das eigene innen, die eigene Identität und genau deshalb spürt man gerade nicht oder nicht mehr, wie und was man eigentlich ist. Man ist dann nur noch mit dem aussen bzw. im Beispiel mit der Gruppe beschäftigt, indem man versucht argumentatorisch und logisch dem aussen bzw. der Gruppe logische Fehlschlüsse nachzuweisen. Sprich man kämpft dagegen an, dass das aussen in einen selbst das Gefühl induziert, nicht richtig, also falsch zu sein.
Es hilft dann auch wenig, wenn man sich selbst vergegenwärtigt, dass man in Gruppen von anderen auf die beschriebene Weise in ein oben und unten einsortiert wird, da dies bei anderen zu einer Art Selbstwertstabilisierung (zum Glück bin ich als Kind nicht so falsch abgebogen wie) führt. Den auch in einem solchen Fall beschäftigt man sich ja mit dem aussen, also den anderen und nicht mit sich selbst.
Das induzierte Gefühl des nicht richtig, also falsch zu sein bleibt, ungeachtet jeglicher rationaler Klimmzüge. Vielleicht, da in einem dieses Gefühl ohnehin schon immer existierte und nun neuerlich durch die Gruppe induziert wird.
Selbst wenn es einem relativ einfach gelingt, den Gruppenmitgliedern argumentatorsche und logische Fehlschlüsse nachzuweisen, löst dies jedoch das eigentliche Problem nicht. Man hat dann trotzdem so etwas wie ein Gefühl der negativen Zeugenschaft, die einen in seinem eigenen sein auf eine Weise festlegt, die sich nicht richtig anfühlt. Das obwohl die Gruppe ja Zeuge im positiven Sinne, so wie oben beschrieben, sein soll. Ebenso kann es sein, dass durch das ständige Verweisen auf argumentatorsche und logische Fehlschlüsse, in der Gruppe Widerstände entstehen. Die Gruppe hält dann an ihren Narrativen und Projektionen fest, eine Verbindung auf der Beziehungsebene findet nicht statt.
Tatsächlich inszeniert sich ja, im Beispiel bezogen auf die Gruppe, wie oben beschrieben, mitunter auch völlig zurecht, das Jammern und Klagen erneut, was dann nicht verstanden wird, vielleicht auch, da man es nicht will, weshalb, insofern die Dynamik nicht aufgelöst wird, man sich erneut zusammen mit der Gruppe in einer Endlosschleife befindet.
Natürlich kann dieselbe Dynamik auch in einer Einzeltherapie stattfinden.
Deshalb denke ich, dass es schon eine Art Kunst ist und diese bedarf dann doch einem Guten Mass an Fingerspitzengefühl, das Konzept der Zeugenschaft dann tatsächlich praktisch und sinnvoll umzusetzen.
Sprich für mich stellen sich die Fragen, was ist wahre, authentische und gelungene, auch nachhaltige Zeugenschaft, da man sie nicht nur rational wahrnimmt sondern auf sehr basale Weise fühlt und wo scheitert diese und wenn sie dies tut, warum tut sie dies?
Viele Grüsse
modean
Hallo Dunja,
über Twitter bin ich auf deinen Blog gestoßen und ich bin überrascht, wie wunderbar es dir gelingt, mit verständlichen und einfühlsamen Worten Kontakt zu depressiven Menschen aufzunehmen. Ich wünsche dir alles Gute für deine Ausbildung und beglückwünsche heute schon deine künftigen Patienten. So wohl habe ich mich noch nie beim Lesen eines Experten-Artikels gefühlt.
Liebe Grüße Benno (ein Betroffener)
Mein Blog: http://www.was-ist-depression.net
Das Konzept Seligmans ist nicht korrekt, zumindest missverständlich dargestellt. Es geht bei ihm nicht darum, dass sich die betroffene Person hilflos stellt, sondern dass sie aufgrund von vergangenen Erfahrungen hilflos fühlt und deshalb auch in der aktuellen Situation hilflos reagiert und handelt. Die Grundlage ist also nicht ein „bequemes“ Verhalten, sondern tatsächlich eine erlebte Hilflosigkeit.
Gruß
Ch. Günther