Desorganisierter Bindungsstil: Wenn die Mutter bedroht und beruhigt

Kinder und Jugendliche mit einem „desorganisierten Bindungsstil“ (D-Bindung) zeigen in der Beziehung zu anderen Menschen ein scheinbar unverständliches Verhalten. Oft hatten sich ihre Eltern so verhalten, dass es ihnen Angst machte. Daher haben diese Kinder einen starken Drang, andere zu kontrollieren (was jedoch immerhin ein Zeichen von „Organisation“ sein kann). In Beziehungen leiden die Kinder oft unter unerklärlichen Ängsten. Andere, zum Beispiel Lehrer, erleben sie als wenig hilfreich oder bedrohlich. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen widersprechen sich sehr oft selbst, verweigern die Antwort auf Fragen, können nicht antworten oder antworten unpassend.

Schnell malen sie sich bei Trennungen von der Mutter katastrophale Bilder aus – so, als ob sie sterben müssten, wenn sie ohne die Mutter sind. Sie haben kaum eine Chance, sich selbst zu entwickeln, weil sie ängstlich an der Mutter kleben – sie versuchen, die Mutter zu besänftigen. Gleichzeitig kann das Gefühl entstehen, die Mutter würde ein Stück der Kinderseele mitnehmen, wenn sie geht.

Die Kinder leiden an einer Mischung aus Erinnerungen und beängstigenden Vorstellungen darüber, was in der Zukunft von der Mutter noch zu erwarten ist. Wird sie strafen? Wird sie unberechenbar sein? Hat man etwas falsch gemacht? Es kann außerdem Sorge um die Mutter entstehen. Die Kinder haben mitunter Angst, die Mutter könnte einen Unfall haben oder schwer krank werden, was gleichzeitig als heimlicher Wunsch verstanden werden kann. Desorganisierte Kinder provozieren genau diejenigen, die sie am liebsten haben und sie verscheuchen den anderen, wenn sie sich Nähe wünschen. Sie werden wütend auf sich selbst, wenn sie Nähewünsche spüren oder sie leiden an den verschiedensten Körpersymptomen, die auftreten, weil die Liebe fehlt und der Bezug zum eigenen Körper selbst desorganisiert ist. Verstehen scheint es in kaum einem Zusammenhang zu geben.

„Das zentrale Charakteristikum desorganisierter Bindung sind Affekte von Furcht im Zusammenhang mit traumatischen Beziehungserfahrungen. Ein desorganisiertes Bindungsverhalten beim Kleinkind entsteht, wenn die Interaktion mit der Bezugsperson angstauslösend ist (z.B. wie bei misshandelnden oder dissoziierenden Eltern) und die Bindungsfigur somit gleichzeitig die Urache wie auch die potenzielle Beruhigung für den kindlichen Stress darstellt.“ (Eva Flemming, Laura Lübke, Sasche Müller, Lisa Petra Sophia Rümler, Carsten Spitzer (2023): Validierung der deutschsprachigen Version der Adult Disorganized Attachment Scale (ADA-D). PPmP – Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, Thieme 2023 73(11): 473-479, doi 10.1055/a-2140-8260)

Bei Wiedersehen: Treten. Kleine Kinder mit einem desorganisierten Bindungsstil freuen sich nach einer Trennung über die Rückkehr der Mutter und gleichzeitig freuen sie sich nicht. Sie zeigen ein chaotisches Verhalten – sie laufen auf die Mutter zu oder von ihr weg oder sie erstarren auf dem Weg zu ihr. Sie können die Mutter treten oder plötzlich in die Hose machen. Ständig müssen sie ihren Angriff oder ihre Abweisung fürchten.

Der Begriff „Desorganisierte Bindung“ wurde von der Entwicklungspsychologin Mary Main geprägt.

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Links:

Eva Flemming, Laura Lübke, Sasche Müller, Lisa Petra Sophia Rümler, Carsten Spitzer (2023):
Validierung der deutschsprachigen Version der Adult Disorganized Attachment Scale (ADA-D).
doi 10.1055/a-2140-8260
PPmP – Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, Thieme 2023 73(11): 473-479

Komisaruk & Whipple, 1998: „… this definition of love encompasses having an emotional bond with a person for whom one yearns, as well as having sensory stimulation that one desires. … We propose a neural mechanism by which deprivation of love may generate endogenous, compensatory sensory stimulation that manifests itself as psychosomatic illness.“
(Übersetzt von Voos:) „Wir stellen einen Mechanismus vor, der zeigt, wie das Fehlen von Liebe eine kompensatorische, sensorische Stimulierung auslösen könnte, die sich dann als psychosomatische Erkrankung manifestiert.“
Barry R. Komisaruk and Beverly Whipple (1998):
Love as sensory stimulation: Physiological consequences of its deprivation and expression.
Psychoneuroendocrinology, Volume 23, Issue 8, November 1998, Pages 927-944
https://doi.org/10.1016/S0306-4530(98)00062-6 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0306453098000626

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 11.10.2014
Aktualisiert am 24.4.2024

3 thoughts on “Desorganisierter Bindungsstil: Wenn die Mutter bedroht und beruhigt

  1. Jay sagt:

    Das starke Bedürfnis andere zu Kontrollieren, bzw. nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren und sich ohnmächtig zu fühlen, ist interessanterweise oft in der Biographie von Psychopathen zu finden.
    Am extremsten zeigt sich dies bei Serienkillern.
    Ted Bundy sagte aus, dass er sich bei seinen Taten wie Gott und ‚Herr über Leben und Tod‘ seines Opfers fühlte – also genau das Gegenteil von dem genannten Kontrollverlust.

  2. Vom Antworten sagt:

    „Die betroffenen Kinder und Jugendlichen widersprechen sich sehr oft selbst, verweigern die Antwort auf Fragen oder antworten unpassend.“

    Das können Außenantworten/Außenerklärungen auf ein Verhalten sein. Ein scheinbares „Verweigern der Antwort“ kann ein „Nichtfinden/-haben einer Antwort“ sein. Man sucht nach einer Antwort, kann sie aber nicht mit sich vereinbaren (sie beinhaltet immer einen Teil Lüge oder Selbstverrat) oder man überschreitet die Antwortzeit, weil man die Antwort noch sucht/überlegt.
    Der andere denkt, man verweigert die Antwort, aber man hat (noch) keine und überlegt noch. Das ist jedoch imo etwas anderes, als eine Antwort zu verweigern.

    Ähnlich bei scheinbar „unpassenden Antworten“: Wenn man nicht lügen oder sich selbst verraten will (über das Manko einen Selbstverrat bei einer Antwort zu empfinden kann man diskutieren) sucht man nach einer Antwort, die mit einem vereinbar ist. Das kann zB. dadurch erreicht werden für einen, indem man den Sinngehalt von Worten für sich verändert, zum einen für die Frage (die Frage ändert ihren Inhalt, die Antwort kommt der Veränderung entsprechend), zum anderen für die Antwort. Beides wirkt auf den anderen asynchron, nicht zueinandergehörend.
    Es kann auch dazu kommen, daß man die Frage „runterreduziert“ auf einen Allgemeinplatz, daß die Antwort darauf ein Detail ist, daß das Ganze widerspiegelt. Auch das wirkt „unpassend“, weit entfernt, ist aber an sich nahe dran. So nahe dran im Abstand, daß man es nur sieht, wenn man nicht hinsieht.

    Der „Antworter“ antwortet nicht gemäß des allgemeinen Usus zu antworten, sondern gemäß seines Inneren. Aber er antwortet, so gut und richtig er kann. Genauso gut und richtig, wie der Frager die Antworten nach seinem Innerem aufnimmt und versteht.

  3. Friedrich sagt:

    Wieder mal ein sehr guter Hinweis auf die Schwierigkeiten im gemeinsamen Miteinander in der Familie!

    Ich habe das auch kennengelernt. Und zwar nicht direkt an mir selbst, sondern an zwei Geschwistern einer anderen ‚Familie‘. Die große Schwester ging zwei Jahre mit mir in die Grundschule. Sie war immer ‚die Dümmste‘. Ihr Bruder war zwei Jahre jünger und kam später auf eine Sonderschule. Was die Ursache dafür war, wird nun von dir durch deinen Bericht bestätigt: ein kaputtes ‚Elternhaus‘ – welches aber in dem Fall kein Elternhaus war, denn die beiden lebten bei ihrer Großmutter. Das war – glaube ich – eine richtig strenge Furie. Vielleicht sogar eine Hexe! Ich glaube, wenn die mit den Kindern nicht zufrieden war, haben die bestimmt ordentlich Prügel bezogen oder sind zumindest heftigst beschimpft worden. Dadurch haben sich meiner Meinung nach auch deren Ängste entwickelt, die sie dann in die Schule mitgenommen haben. Und aus Angst davor, wieder etwas falsch zu machen und etwas Falsches zu sagen, haben sie größtenteils vielleicht gar nichts mehr gesagt, aus Angst der Lehrer könnte wohl genauso reagieren wie die Großmutter!

    Für mich sind diese Zusammenhänge verständlich. Aber scheinbar sind sie es nicht für die Betroffenen, für die Eltern, das Umfeld und die Politik. Kinder werden als dumm abgestempelt, obwohl sie nichts dafür können – es sei denn, es gibt organische (cerebrale) Schäden oder Erkrankungen. Die Lehrer schaffen es nicht, das Vertrauen dieser Schüler zu gewinnen, die Eltern (bzw. Erziehungsberechtigten) sind sowieso schon überfordert und die Politik will mit immer neuen Maßnahmen steuern, ohne sich über die Wirkmechanismen der Hintergründe incl. der Psychologie ein klares Bild zu haben! Lehrer werden mit neuen Maßnahmen überfordert. Es wird eine ‚Inklusion‘ eingeführt, die alle miteinander integrieren soll – dabei ist genau das der falsche Weg: Jeder Betroffene braucht seine individuelle Förderung! Wer schon benachteiligt ist, muss sich jetzt auch noch in einem Umfeld von ‚Besseren‘ durchsetzen. Da würde ich mich wie ein Versager fühlen und innerlich kapitulieren!

    Das Ende dieses ‚Nicht-Wahrnehmen-Wollens‘ durch die Politik führt dazu, dass Eltern, Lehrer und Schüler überfordert sind. Die Eltern fordern von den Lehrern, dass diese einen Teil der ‚Erziehung‘ übernehmen sollen. Die Lehrer fordern das selbe von den Eltern, dass sie sich um die Erziehung ihrer Kinder kümmern sollen. Dabei sind die Eltern aber auch oft hilflos, denn sonst wäre es nicht so weit gekommen. Aber sie holen sich auch keine professionelle Hilfe bei Beratungsstellen, denn damit müssten sie sich selbst eingestehen, dass sie ’nicht perfekt‘ sind! ‚Man könnte ja auch evtl. über sie reden!‘ So versuchen sie, diese Probleme auszublenden. Und am Ende der Kette stehen die Kinder wieder hilflos und allein da. Und was machen diese, um nicht hilflos dazustehen? Sie fangen an, andere zu mobben, damit sie sich selbst wieder stärker fühlen können. Sie fangen an, auf anderen herumzuhacken, die ’systemtreu‘ sind, fleißig ihre Hausaufgaben machen und dem Lehrer huldigen. Aber das gefällt ihnen nicht. Sie fangen an zu stören und zu mobben! So wird alles zerstört. Es bleiben nur noch Verlierer!

    Was wir brauchen, ist eine völlig neue Sichtweise auf die Ursachen und eine neue Herangehensweise! All diese Dinge müssen endlich einmal benannt werden. Man müsste viel mehr Aufklärungsarbeit leisten. Aber wo soll man damit anfangen? Wem soll man zuerst klarmachen, dass es so nicht immer weitergehen kann? Die Eltern tun es nicht, weil sie sowieso schon überfordert sind und die Kraft und Energie gar nicht mehr haben. Die Lehrer machen es nicht, weil sie auch so schon genug zu tun haben, mit den vielen Stunden, die sie von den Politikern aufgedrückt bekommen! Und die Maßnahmen der Politiker werden weiterhin ihr Ziel verfehlen, wenn sie sich nicht endlich mal den Herausforderungen des Schulalltags stellen und wenn sie sich nicht die Gründe und Ursache für die Katastrophe anschauen!

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