Der Gutgeh-Stress
Es muss uns gut gehen. Davon sind wir überzeugt. Und davon werden wir an jeder Ecke überzeugt – Ratgeber mit befreit lächelnden Menschen auf der Titelseite zeigen uns, wie es wirklich geht: Endlich entspannt zu sein und es „geschafft“ zu haben. „Wenn Sie länger als zwei Wochen antriebslos und traurig sind, gehen Sie zum Arzt – es könnte eine Depression dahinterstecken“, liest man immer wieder. Holla die Waldfee!
Wenn sich jeder nach 2,5 Wochen Antriebslosigkeit zum Arzt begeben würde, würde das vielleicht die Pharmaindustrie freuen. Doch im Nu würde es heißen: „Depressionsrate in Deutschland auf 85% angestiegen.“ Wer kennt nicht die Phasen des Lebens, in denen man wochenlang geknickt ist und sich in einem dunklen Loch befindet? Wer ist nicht nach einer nicht bestandenen Prüfung, nach einer Fehlgeburt, nach einer Scheidung, nach einer Kündigung für viele Wochen oder Monate in einer schweren Krise?
Unsere Zielvorstellung und das wahre Leben klaffen mehr und mehr auseinander
Je mehr wir versuchen, entspannt und „effektiv“ zu leben, umso mehr sind wir enttäuscht, wenn das Leben nicht bilderbuchmäßig verläuft – was es ja meistens nicht tut. Begriffe wie „Ein Recht auf Gesundheit“ oder „Ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ stellen oft einen krassen Gegensatz zur Wirklichkeit dar. Wir meinen, wir müssten genügend Freunde haben, ein „Netzwerk“ haben, Ziele haben, Sport treiben, wir müssten beim Essen eine Kerze anzünden, dürften keinen Fernseher im Schlafzimmer haben, müssten die Kinder um acht Uhr ins Bett schicken und dürften nicht länger als zwei Wochen traurig und antriebslos sein. Wenn wir dann einmal eine gute Schaffensperiode haben, lesen wir den nächsten Artikel über bipolare Depressionen, die durch wechselnde Phasen von Depression und Hochstimmung gekennzeichnet sind. Und schon sorgen wir uns darüber, ob wir vielleicht gerade „manisch“ sein könnten. Wir fühlen und „zu dick“, „zu faul“, „zu unorganisiert“. Aber selten „zu-frieden“.
Paradoxe Entspannung
Paradoxerweise entspannen wir uns dann, wenn wir uns sagen: Wir dürfen ruhig auch mal zwei Monate lang antriebslos sein und können es uns erlauben, deswegen nicht den Arzt aufzusuchen. Es ist ok, wenn ich diese Woche keinen Salat esse. Es ist auch in Ordnung, mal einen Tag lang alle Rolläden zu schließen und sich ins Bett zu verkriechen oder sich sozial eine Zeit lang zurückzuziehen, ohne dass man direkt davon ausgehen muss, dass nun eine schwere Depression begonnen hat. Das Leben besteht aus Streit, Konflikten, Phasen der Arbeitslosigkeit, der Überschuldung, der Einsamkeit, aus Schäden am Auto, hohen Rechnungen, schlechtem Wetter und vielem mehr. Da können wir noch so viele Ratgeber mit lächelnden Menschen vorne drauf lesen. Wenn wir mit mehr Selbstverständlichkeit auch schlechte Phasen des Lebens als zum Leben gehörend anerkennen, dann lässt die innere Anspannung oft nach. Dann merkt man: Wenn man ausgeschlafen hat, kommt die Lebenskraft zurück. Wenn man sich ein wenig seinem Schmerz hingegeben hat, dann wächst auf einmal wieder die Lust, es sich besser gehen zu lassen.
Schmerzen können sinnvoll sein
Wir haben heute den Drang, Unangenehmes schnell zu betäuben. „Schmerzen müssen doch heute nicht mehr sein“, heißt es zum Beispiel häufig beim Thema Geburt. Als „verklärt“ wird es bezeichnet, wenn Frauen zufrieden von ihrer natürlichen Geburt sprechen. Die Endorphine, die während der langen Schmerzphase ausgeschüttet werden, führen die Frau in eine eigene innere Welt, in der sie sich auf die Geburt konzentrieren kann. Ein Buch mit dem Titel „Die Lust aufs Gebären“ von Traude Trieb spiegelt wider, dass der Geburtsschmerz nicht nur etwas Negatives ist. Hingegen werden Eingriffe wie zum Beispiel die Periduralanästhesie (PDA, „Rückenmarksbetäubung“) schon während der Prozedur als etwas „extra“ Unangenehmes empfunden. Die Frau hat sich Erleichterung erhofft, ist dann aber oft überrascht, mit wieviel Problemen so eine Betäubung behaftet sein kann (z.B. nur halbseitige Betäubung, Nachlassen der Wehentätigkeit/Verlängerung der Geburtsdauer, Taubheitsgefühle in den Beinen, Kopfschmerzen nach der Entbindung). Natürlich findet man oft auch das umgekehrte Bild: Die Frau nach der natürlichen Geburt sagt: „Nie wieder!“ und die Frau mit der PDA sagt: „So war es genau richtig.“ Das Erlebnis ist von vielen Umständen abhängig – nicht zu letzt von der Persönlichkeit der Frau selbst.
Das eigene Gefühl ist sicher
Auch, wenn wir unsere Gefühle im Alltag noch so zu verdrehen versuchen: Im Grunde ist unser Gefühl ein sicherer Ratgeber. Wenn die Ampel rot ist, dann halten wir an – nicht nur, weil es das Gesetz sagt und weil der Polizist da steht, sondern weil wir auch wissen, dass dieser Stopp uns vor Unfällen schützt. Zwar können wir lernen, geschickt und heimlich über rote Ampeln zu fahren, doch unser Gefühl, dabei etwas Ungutes zu tun, wird bleiben. Und so können wir uns auch auf unser Gefühl verlassen, das uns sagt, ob wir durch diese Phase dieses Lebens lieber alleine durchgehen oder ob wir uns Hilfe suchen wollen – bei Freunden, bei Therapeuten oder Ärzten. Es gibt Phasen, da möchte man keine Hilfe annehmen.
„Ich will’s mir ungestört schlecht gehen lassen“
Es gibt Trauerphasen, die man vielleicht ungestört durchleben möchte, weil man weiß, dass es eine wichtige Phase ist. Zwar liest man immer wieder: „Gehen Sie zügig zum Arzt, damit sich Ihre Störung ja nicht chronifiziert. Denken Sie an das Schmerzgedächtnis, das sich entwickeln könnte – dann werden Sie immer leichter immer mehr Schmerzen haben!“ Doch das Gefühl, wann man bereit ist, Hilfe anzunehmen und den Arzt aufzusuchen, kommt dann, wenn die Zeit dafür reif ist. Man kann auch nach Monate langen Rückenschmerzen zu Recht darauf hoffen, dass es auch wieder eine Zeit ohne Rückenschmerzen geben kann. Wer jahrelang an Depressionen oder Angststörungen leidet, der hat dennoch Aussicht auf gute Hilfe. Es muss nicht alles früh sein, alles sofort sein. Das Gefühl und die Lebensumstände führen die meisten Menschen genau dann zum Arzt, wenn’s passt. Und auch der Arzt ist kein Allheilmittel: Oft kann er helfen, oft eben auch nicht. Viele Menschen mit chronischem Leiden stellen sich darauf ein und kommen gut damit zurecht.
Beziehungen pflegen – das ist wirklich wichtig
Machen wir uns keinen „Gut-geh-Stress“. Unsere Kraft können wir sinnvoller einsetzen: Ein einsamer Spaziergang in „akzeptierter“ Traurigkeit kann sehr viel erholsamer sein als ein Gedankenkreisen darum, ob die Traurigkeit nicht eine Depression sein könnte. Gehen wir lieber mal einen Freund besuchen, anstatt uns ins Fitnessstudio zu schleppen. Überhaupt: gute Beziehungen tragen uns durch’s Leben. Sie zu suchen und aufzubauen, das ist wirklich wichtig. Und wenn’s dafür eine Psychotherapie braucht …
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 31.8.2012
Aktualisiert am 24.4.2014