Zum Wohle des Kindes
Wenn ich den Ausdruck „Zum Wohle des Kindes“ höre, wird mir ganz unwohl. Oft sagen es Fachleute, wenn sie nicht so recht weiterwissen. „Zum Wohle des Kindes“ bedeutet doch oft auch, dass entweder Vater oder Mutter zurückstecken müssen. „Zum Unwohl eines oder beider Elternteile“ könnte man manchmal sagen. Doch das Kind fühlt sich meistens dann wohl, wenn sich beide Elternteile auch wohl fühlen. Dieser Aspekt kommt meistens zu kurz, vor allem, wenn ein Dritter – zum Beispiel ein Richter – zum Unwohl eines Elternteiles entscheidet.
Wer das Kind hat, hat die Macht
Das Dilemma getrennt erziehender Eltern ist, dass der eine strukturell überfordert ist und der andere mit der Sehnsucht kämpft. Der, der gerade das Kind hat, fühlt sich vielleicht stärker, oder besser gesagt: sicherer. Er kann leichter argumentieren und fordern mit dem Ausblick: „Wenn Du nicht das tust, was ich will, bekommst Du das Kind nicht.“ Dann lautet der Vorwurf an den gerade Stärkeren verständlicherweise: „Das darst Du nicht machen. Damit instrumentalisierst Du Dein Kind.“ Es folgt das Schuldgefühl. Und der andere? Der fühlt sich ohnmächtig, bis er das Kind wieder hat und theoretisch mit gleicher Münze heimzahlen kann.
Dass diese Szenen oft nicht gut sind für das Kind, ist auch den betroffenen Eltern klar. Aber in ihrer Hilflosigkeit tun sie vieles, was von außen betrachtet schlecht ist und anders gehandhabt werden könnte. Wichtig ist daher die Frage: Wie kommt eine solche Situation zustande und wie können die Eltern entlastet werden?
Es fehlt an „wohlwollenden Dritten“
Zerstrittene und längst getrennte Eltern bekommen oft gesagt: „Das müsst ihr irgendwie selbst regeln.“ Doch das ist ungefähr so, als würde man einem Menschen mit einer Depression sagen: „Jetzt steht doch auf, treibe Sport und genieße den Tag.“ Manchmal fühlen sich die Eltern so unfähig, eine Lösung zu finden, dass sie schier gelähmt sind. Sie fühlen sich, als sei es unmöglich, sich zu einigen. Und dann kommen Menschen von außen, die sagen: „Einigt Euch.“ Freunde tun ihr Übriges dazu: Die Freunde der Mutter sagen: „Lass Dir das nicht bieten, da musst Du diesmal wirklich hart bleiben.“ Freunde des Vaters sagen vielleicht: „Die spinnt doch, die kannst Du nicht ernst nehmen, die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Damit öffnen sich die Gräben noch weiter.
Der Blick für beide
Der gut gemeinte Ratschlag, man solle sich doch an die positiven Seiten des ehemaligen Partners erinnern, kommt daher wie ein kleiner Wassertropfen, der auf die heiße Herdplatte fällt. So, wie es so schwer fällt, sich selbst zu lieben, wenn kein anderer da ist, der einen liebevoll anblickt, so ist es auch schwer, die guten Seiten des anderen zu spüren, wenn man gerade selbst voller Hass ist oder die Freunde sagen: „Dem würd‘ ich’s zeigen.“ In so einer Situation würde ein „wohlwollender Dritter“ gut tun. Jemand, der Vater und Mutter des Kindes kennt und beiden zugeneigt ist. Das kann zum Beispiel ein psychoanalytischer Mediator sein – jemand, der nicht nur über den Verstand arbeitet, sondern der beide Eltern verständnisvoll anblicken kann und zusammen mit Vater und Mutter die unbewussten Aspekte ihres Handelns aufspürt. „Der gute Dritte“ kann aber auch ein guter Freund sein, der beide kennt oder ein weiser Verwandter, der die Wertschätzung für den anderen Elternteil nicht verloren hat.
Starke Gefühle versperren dem Verstand den Weg
Immer wieder kommt es bei getrennten Eltern zu unglaublich starken Gefühlen. Das Kind ist Teil von Mutter und Vater. Mutter und Vater müssen sich praktisch ihr Herz teilen und ihr Liebstes gemeinsam in den Händen halten, obwohl sie sich gegenseitig nicht mehr ertragen können. Das Kind scheint irgendwann nicht mehr das gemeinsame Kind zu sein, sondern nur noch das Kind der Mutter oder des Vaters. „Wir sind ein Team“, sagt die Mutter zum Kind. Zwei Wochen später sagt es der Vater zum Kind. Und so schließt jeder den anderen aus, um mit den eigenen Verletzungen klarzukommen.
Mangelnder Kontakt fördert die Phantasie
Der Kontakt zwischen Mutter und Vater wird immer geringer. Das öffnet jedoch der Phantasie Tür und Tor. Wenn die Eltern sich nicht austauschen, macht jeder sich Gedanken darüber, was der andere gerade tun, lassen oder denken könnte. Was er/sie jetzt gerade wieder ausheckt. Oder ob er/sie von seinem/ihrem Anwalt schon das nächste Schreiben aufsetzen lässt. Mutter und Vater würden sich wahrscheinlich wundern, wie die Wirklichkeit ausähe, hätten sie die Gelegenheit oder die Fähigkeit, miteinander zu sprechen.
Miteinander zu sprechen, heißt aber auch, sich wieder näherzukommen. Und dann kommen wieder neue Gefühle ins Spiel: Einer ist dem anderen vielleicht noch zugeneigt, der andere aber gar nicht. Einer hat schon einen neuen Partner, der andere aber nicht. Dann denkt jeder von beiden: „Also diese Annäherung hätte ich mir mal sparen sollen. Soviel wollt‘ ich gar nicht wissen. Der andere lässt es sich gut gehen und mir bleibt nur so wenig.“ Kaum irgendwo ist Kontakthalten, Annäherung oder gesunde Distanzierung schwieriger als zwischen zwei getrennten Elternteilen. Die Eltern fragen sich: „Wie können wir Eltern sein, ohne ein Paar zu sein?“ Schon alleine hierfür gute Bilder und Vorstellungen aufzubauen, kann sehr schwierig sein – vor allem, wenn die Kinder noch klein sind. Denn oft haben die Väter bereits früh eine neue Partnerin, während die Mütter lange Zeit alleine bleiben und in der unbewussten Phantasie manchmal eben doch noch ein „Paar“ mit dem anderen bilden.
Sich gegenseitig Gutes gönnen
Vater und Mutter können schlecht an das „Wohl des Kindes“ denken, wenn sie selbst innerlich noch so sehr mit ihren Verletzungen kämpfen. Dann ist es sehr wichtig, dass jeder erst einmal unabhängig vom anderen Elternteil an sein Wohl denkt. Sowohl der Vater als auch die Mutter müssen erst einmal ihr eigenes Wohl stärken – aus eigener Kraft und mit der Hilfe anderer. Je besser es dem Einzelnen geht, desto leichter ist es, dem anderen etwas Gutes zu gönnen.
Es sich selbst wieder gutgehen zu lassen, bedeutet oft aber auch „innere Trennung“. Denn das Verstricktsein in die Streitereien mit dem anderen kann eine starke Verbindung sein. Manche Eltern halten unbewusst diese Verbindung aufrecht – wenn schon die liebevolle Verbindung nicht möglich ist, dann doch die streitvolle Verbindung. Es kann fast ein schmerzhafter Prozess sein, sich von der strittigen Verbindung zu trennen und wirklich eigene Wege zu gehen. Erst, wenn es Vater und Mutter gut geht und sie selbst eingebunden sind in ein wohlwollendes, verstehendes soziales Netz, dann wird der gute Kontakt wieder möglich. Aber das braucht sehr viel Zeit, Kraft und Gelegenheit zum Trauern. Und sehr gute, weise Freunde, Bekannte, Verwandte, Lehrer oder Jugendamtsmitarbeiter.
„Es geht ums Kind“
Wenn Vater oder Mutter sagen, es gehe um’s Kind, dann heißt das – vor allem, wenn die Kinder klein sind – oft auch: „Es geht um mich“. Denn es geht um die eigenen Vorstellungen, die man vom Kind hat, um die eigenen Gefühle und Wünsche, um die eigene Vergangenheit. Es ist eine ungeheure Aufgabe für Vater und Mutter, das anzuerkennen und die Vorstellungen und Wünsche des anderen zu würdigen. Ja, es geht um den Vater und es geht um die Mutter, wenn es „um’s Kind“ geht.
Oft kommen auch Erzieher, Lehrer oder andere kluge Menschen, die sagen: „Hier geht es uns um’s Kind“ und deuten damit an, dass die Eltern ausgeschlossen werden. Das tut den Eltern weh. Wer sagt „es geht ums Kind“, der zeigt damit oft, dass er am Ende seines Lateins ist oder dass er es besser weiß als die Eltern. Diese Aussage weckt aber eher den Widerstand als den Ver-stand. Es geht um die Eltern, die sich manchmal selbst so hilf- und machtlos fühlen wie die Kinder. Die Eltern ringen oft jahrelang und immer wieder neu um die besten Lösungen, die doch so schwer zu finden sind.
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Hilfreich sind gute Bücher oder DVDs, z. B. diese hier:
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Pasqualina Pierrig-Chiello und Remo H. Largo
im Gespräch mit Norbert Bischofberger, 18. Mai 2008
DVD zu bestellen beim Schweizer Fernsehen, www.sf.tv
Remo Largo:
Glückliche Scheidungskinder
Serie Piper, 2003
Figdor, Helmuth
Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung
Wie Kinder und Eltern die Trennung erleben
Psychosozial-Verlag 2012
Figdor, Helmuth
Patient Scheidungsfamilie
Ein Ratgeber für professionelle Helfer
Psychosozial-Verlag 2012
Link:
Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV)
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am: 8.8.2010
Aktualisiert am 22.5.2013
One thought on “Zum Wohle des Kindes”
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Natürlich ist eine Trennung für jeden beteiligten eine schwierige Sache, voller negativer und schmerzhafter Gefühle. Ich bin jedoch aus eigener Erfahrung (als Scheidungskind) davon überzeugt, dass es manchmal jemanden von außen braucht, der Partei ergreift (für das Kind). Besonders wenn beide Partner nicht mehr in der Lage sind verantwortungsvoll und mitfühlend mit dem eigenen Kind umzugehen, dann braucht das Kind jemanden von außen, der sich schützend vor es stellt. Bei mir war das ein Richter und ich bin ihm bis heute sehr dankbar dafür, das er meinen Eltern ein Stopp gesetzt hat. Ich hätte mir, im nachhinein nur gewünscht, das das früher geschehen wäre. Das vielleicht früher jemand gefragt hätte: Was ist mit dem Kindeswohl? Wie geht es dem Kind bei dem Verhalten der Eltern? Ist das für das Kind überhaupt aushaltbar?
Daher bin ich der Meinung, dass es gut und sinnvoll ist, das Kind als eigenes Wesen zu begreifen und seinem Wohl Priorität einzuräumen. Denn egal wie es den Eltern geht, sie sind dieser Krise nicht annähernd so ausgeliefert und unterworfen, wie es das Kind ist. Spätestens dann, wenn es um Grenzüberschreitungen gegenüber dem Kind geht, es Gewalt erlebt oder miterlebt, dann muss das Kindeswohl (notfalls) von außen gewahrt werden.