Nähe zulassen wird leichter, wenn eine spürbare Schutzhülle entsteht

Oft fällt es uns schwer, Nähe zuzulassen. Manchmal liegt der Grund darin, dass eine körperlich spürbare Schutzhülle zu fehlen scheint oder dass sich die körperliche Hülle undicht anfühlt. Auch das Bild vom anderen ist dann vielleicht nicht gerade vertrauenserweckend. Am besten können sich zwei Menschen nahe sein, wenn sie sich sicher voneinander getrennt fühlen. Wenn wir uns respektiert fühlen, können wir die Nähe zum anderen als etwas Gutes erleben. Es gibt uns ein gutes Gefühl, wenn wir wissen, dass wir unserem Bedürfnis nach mehr Abstand oder auch mehr Nähe Ausdruck verleihen dürfen. Haben wir überwiegend bedrohliche Erfahrungen in engen Beziehungen gemacht, dann fühlen wir uns oft auch brüchig. Nähe bedeutet dann für uns, keinen eigenen Raum mehr zu haben. Manche Menschen spüren es in der Partnerschaft, in der Psychotherapie oder Psychoanalyse: Wenn es ruhig und friedlich wird, wenn es so aussieht, als ob man sich gut versteht, wenn es passt, dann wird man unruhig und ergreift die Flucht.

Es ist oft nicht leicht, sein Bedürfnis nach mehr eigenem Raum zu zeigen. Wenn wir davon ausgehen, dass der andere auf unsere Abstandswünsche empfindlich reagiert, dann werden wir vielleicht widerborstig. Vielleicht wollen wir uns dann streiten und den anderen harsch abweisen. Manchmal ist es aber sogar schon schwer, einen Menschen zu finden, der gut zu uns ist und den wir sympathisch finden. Nicht selten wollen wir „Nähe“ zulassen, einfach um es zu „können“, obwohl uns der andere gar nicht sympathisch genug für die Nähe ist.

Wenn Zwei beieinander sind, kann es prinzipiell gefährlich werden. Allein mit einem anderen zu zweit zu sein, kann im Extremfall heißen, umgebracht zu werden. Zu zweit zu sein kann auch heißen, dass unerwünschte Gefühle und Gedanken auftauchen. In der Regel sind dies Wünsche nach mehr Abstand. Wir finden den anderen auf einmal doof. Es ist nicht immer leicht, Abstandswünsche zu äußern. Vielleicht hast Du große Angst davor, dem anderen weh zu tun. In der Psychotherapie mit psychisch sehr schwer kranken Menschen geht es nicht selten zuerst konkret um den richtigen Abstand zwischen Therapeut und Patient.

Zuzweitsein heißt auch, dass man dem anderen immer wieder mal etwas zumuten muss. Und vielleicht hast auch Du manchmal Angst, der andere könnte Abstand brauchen. Dann ist vielleicht die Angst da, den anderen ganz zu verlieren. Wenn sich der andere etwas entfernt oder um mehr Abstand bittet, kann das sehr unangenehme Gefühle auslösen – ähnlich vielleicht wie bei einem Baby, wenn die Mutter den Raum verlässt.

Gebranntes Kind meidet Berührung

Wer als Kind massiv verletzt wurde, dem geht es als Erwachsenen oft ähnlich wie einem Verbrennungsopfer: Die Haut ist wund, der Schutz fehlt. Eigentlich bräuchtest Du nach schweren Verletzungen ganz besonders viel Berührung und Nähe, aber wenn ein anderer auch nur zärtlich die Hand auflegt, vergrößert sich der Schmerz immens. Doch zum Glück ist meistens nicht der ganze Mensch verbrannt: Es gibt auch Stellen, die nicht wund sind und an diesen Stellen kannst Du Dich gut berühren lassen.

In einer Psychotherapie oder Psychoanalyse spürst Du vielleicht, wie Deine Dünnhäutigkeit nachlässt. Wenn Du keine Gelegenheit zu einer Psychotherapie hast, dann kannst Du auch beginnen, konsequent Yoga zu üben. Mit der Zeit spürst Du Deine Muskeln und Deine Haut als verlässlichere Grenze. Das wiederum kann Dir das Gefühl vermitteln, auch psychisch besser geschützt zu sein. Es kommt Dir dann vielleicht vor, als bekämest Du nachträglich einen guten Schutz um Dich herum. „Schutz“ kann auch heißen, dass Du die Vorstellung gewinnst, dass der andere auf Deine Wünsche und Bedürfnisse reagiert. Wenn Du Dir sicher bist, dass der Wunsch, Dich zurückzuziehen vom anderen respektiert wird, ist das auch wie ein eigener Schutz. Nähe zulassen ist etwas, das vielen Menschen schwer fällt. Doch wir können diese Fähigkeit ein Leben lang weiter entwickeln.

Verwandte Beiträge in diesem Blog:

Links:

Burkhard Brosig und Uwe Gieler:
Die Haut als psychische Hülle
Psychosozial-Verlag, 2016

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 21.8.2013
Aktualisiert am 21.4.2024

7 thoughts on “Nähe zulassen wird leichter, wenn eine spürbare Schutzhülle entsteht

  1. Maiken Liefeith sagt:

    Seitdem mirs in der Psychiatrie 1984 und 95 dann endgültig klargemacht wurde (die Psychiatrie beendete damals meine letzten Beziehungen) und ich seitdem als gesundes Zeichen ansah, daß ich nie jemand ohne seine Erlaubnis berühre, ohne zu fragen was zu schlappen 2 erinnerbaren Umarmungen in ca. 10 Jahren führte: Ich bekam neue Nachbarn und die Kleinen stürzen sich wie die Wilden auf mich zum kuscheln – ungefragt und keiner der Eltern schimpft und in mir geht etwas auf, als würde sich mein Herz öffnen. Menschen brauchen Berührungen UNBEDINGT. Der obdachlose Mann, den ich im Herbst angegangen war, weil ich sah, daß er bei ein anderen Frau klauen wollte und dem ich dann Adressen gab, wo er dringend benötigte dsachen herbekommen kann…auch er wollte dann eins – daß wir uns in den Arm nehmen, was dann auch geschah.
    Ohne Nähe stirbt das Herz im Menschen.

  2. Nil sagt:

    Hallo Dunja, vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Das ist noch etwas schwierig zuzuordnen. Wie meinen Sie das?
    Herzliche Grüße

  3. Dunja Voos sagt:

    Liebe Nil,
    vielen Dank für Ihren Kommentar und die detaillierte Darstellung der Kunsttherapie. So kann man eine Vorstellung davon bekommen.
    Mir fiel zu Ihrem Kommentar spontan ein Begriff ein, den der Psychoanalytiker Donald Winnicott geprägt hat: Es geht um dic „Fähigkeit, im Beisein des anderen allein sein zu können“. Es ist immer „schwierig“ wenn ein anderer hinzukommt. Es verändert sich dadurch ganz viel. Jean-Paul Sartre hat ja viel über den „Blick des anderen“ philosophiert. Wenn Sie ins Suche-Feld „zu zweit“ eingeben, finden Sie auch hier einige Beiträge dazu.
    Viele Grüße,
    Dunja Voos

  4. Nil1996 sagt:

    Liebe Dunja,
    ich habe ein paar Fragen und hoffe, das ist in Ordnung.

    warum löst es bei Menschen im Einzellsetting in der Psychotherapie  in meinem Beispiel in der“ Kunsttherapie“ die Nähe und Aufmerksamkeit der Therapeutin Stress aus. Das blockiert manchmal den Prozess. Also dass man auch selbst blockiert, weil die Nähe der Therapeutin Stress auslöst. Obwohl ich mich wohl und sicher bei ihr fühle, passieren solche Situationen, wenn sie neben mir sitzt, da ist zuschaut. Dann drehe ich mich beim Gestalten manchmal leicht zur Seite. Ich bin seit 7 Monaten bei ihr. Es ist ja nicht so, dass ich seit ein paar Wochen da bin und dass mir das Setting noch unbekannt ist. Ich habe in meiner Kindheit sehr traumatische Erfahrungen gemacht. Vielleicht kann das auch daran legen, aber ich finde es ja sehr angenehm. Es tut ja manchmal gut und hilft, aber wiederum gibt es auch Situationen, in der die Nähe meiner Therapeutin Stress auslöst.

    Als ich heute für die jüngeren Anteile etwas aus Ton gestaltet habe hatte ich den Drang, es abzubrechen, weil die Stimme in mir,  das kindlich findet, wenn ich etwas gestalte, was die jüngeren Anteile brauchen. Deshalb habe ich es abgebrochen. Meine Kunsttherapeutin fand es in Ordnung. Jedoch wollte sie wissen, was passiert ist. Daher hat sie vorgeschlagen, die strengen Anteile anzuschauen, weil diese den Prozess blockieren.

    Auch habe ich es abbrechen wollen, weil die Nähe, manchmal schwer aushaltbar ist.

    Danach habe ich mich entschieden, mit Aquarell- Farben zu malen. Als sie dabei war sich neben mich zu setzen, ist die Situation nochmal aufgetreten. Ich habe mich leicht zur Seite gedreht und weiter gemalt.

    Ich fühle mich in ihrer Gegenwart aber sehr wohl und konnte eine sichere Vertrauensbasis aufbauen. Als es mal eine schwierige Situation gab, konnten wir es direkt wieder klären, ohne dass es zwischen uns zu einer Verwicklung gekommen ist.
    Sie strahlt sehr viel Sicherheit aus. Trotzdem passiert das. Als ich das Bild zu Ende gemalt haben, habe ich ihr offen erzählt, dass es für mich schwer aushaltbar ist, wenn es um mich geht und mit der Aufmerksamkeit umzugehen.
    Sie fragt mich auch, ob es in Ordnung ist, wenn sie neben mir sitzt. Ich finde es schade, wenn das passiert. Denn wenn ich mich gut einlasse, dann reguliert die Kunsttherapie den Stress. Es geht mir besser und ich fühle ein sehr sicheres inneres Gefühl, das ich wie Urvertrauen beschreiben möchte. Obwohl ich in meiner Kindheit kein Urvertrauen entwickelt habe.

    Ich konnte mich auch in vielen Sitzungen auf den Prozess einlassen und mit der Nähe umgehen.

    Durch den positiven Kontakt zu meiner Therapeutin spüre ich sehr, was mir als Kind gefehlt hat. Oft kommen traurige Gefühle hoch und ich  wünsche mir manchmal, dass ich Sie als Kind an meiner Seite gehabt hätte.

    Wenn ich als Kind sie als Mutter gehabt hätte, dann wäre mein Leben heute anders. So hätte ich mir eine Mutter gewünscht. Ist das schlimm.? Ein Teil in mir sieht in ihr, worauf ich immer gewartet habe. Das ist total schmerzhaft. Sie ist sehr zugewandt und liebevoll zu mir. Ich fühle mich so sicher in der  Gegenwart mit ihr. So dass ich auf der anderen Seite auch im Kontakt mit ihr viel Traurigkeit spüre, weil genau das mir als Kind schon immer gefehlt hat. Ich würde so gerne offen mit ihr darüber sprechen, aber habe Angst, dass meine Gefühle kindlich sind. Wie könnte ich das in der Therapie kommunizieren.

    In meiner Kindheit habe ich sehr schwierige traumatische Kindheitserfahrungen gemacht. Wurde im Keller, ohne Licht  eingesperrt, wenn ich die Nähe meiner Mutter gesucht habe, wurde ich abgelehnt. Sie konnte wenig bis gar gar nicht eine emotionale Und körperliche Nähe geben und hat mich in solchen Situationen abgelehnt. Also wenn ich mich als Kind oder Jugendliche an sie herangekuschelt habe. Wenn ich laut ihrer Aussage zu viel geredet habe, wurde mein Mund mit Tesafilm von meiner Mutter zugeklebt. Sie hat mich mit einer Teigrolle und anderen Gegenständen geschlagen und meinen Mund mit Chilipulver.  vollgestopft. Nachts bin ich um den Streit meiner Eltern zu entkommen, nach draußen gegangen und habe die Nacht  draußen verbracht.  Meine Eltern konten mir nie Sicherheit und Schutz geben.

    Mein größter Wunsch war es als Kind, einmal abends sicher ins Bett zu gehen, ohne Nachts vom Streit wach zu werden. Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich sehr unsicher. Oft  werte ich mich ab, wenn eine Sitzung so läuft.

    Vielen Dank für deine tolle Beiträge.

    Liebe Grüße
    Nil

  5. Rita Orth-franke sagt:

    Ein wunderschöner Artikel und ein wunderschöner Kommentar von Thomas Spranger und Maria Beege!

    Ich danke Ihnen!

    Liebe Grüße

  6. Ein sehr kluger Artikel mit vielen wertvollen Hinweisen. Herzlichen Dank dafür, wir haben ihn mit großem Interesse gelesen. Das Spiel von Nähe und Distanz ist nicht immer ganz einfach zu spielen. Wer das beherrscht – kann eine tolle Beziehung langfristig führen. Bei uns gelingt das recht gut. Auch wenn wir zu Beginn Angst vor einer zu engen Vertrautheit hatten. Jeder von uns hatte in früheren Beziehungen ja auch Enttäuschungen erlebt, die uns geprägt haben. Wir lassen uns aber gegenseitig Freiräume und freuen uns dann wieder sehr auf einander, auf eine gemeinsame schöne Zeit mit vielen besonderen Momenten. Die verlieren wir nie aus dem Fokus. Das ist es, was die Gefühle und die Leidenschaft bei uns für einander erhält.

    Um die gegenseitige Anziehung für einander aufrecht zu erhalten ist das enorm wichtig. Sobald zu viel Alltag einzieht, jeder nur noch für sich selber mit seinen Pflichten und Aufgaben beschäftigt ist, verlieren wir uns aus den Augen. Wir gehen uns manchmal auch sehr auf die Nerven, wenn wir nur noch aufeinander hängen. Dann wird es einfach Zeit, einander wieder einmal etwas loszulassen. Luft zum Durchatmen brauchen wir alle. Dann ertragen wir uns auch in schwierigen herausfordernden Situationen wieder viel besser.

    Auch wir sind nicht 24 Stunden lang ineinander verliebt, aber wir lieben uns und wissen, dass wir aufeinander zählen können. Das gegenseitige Vertrauen ist die Basis und das Fundament in unserer Partnerschaft. Und das erfüllt uns mit großem Glück: Einen Menschen gefunden zu haben, zu dem wir uns sehr hingezogen fühlen und mit dem jeder von uns durch dick und dünn gehen kann.

    Ja, die Achtsamkeit ist ein Zauberwort für die Qualität in der Beziehung. Zu spüren, wie es dem anderen geht, was er braucht, welche Bedürfnisse er hat. Und dann darauf eingehen, ihm signalisieren „Ich bin da für dich“. Oft ist das nicht so leicht umsetzbar im Alltag. Zu vieles strömt auf uns ein. Das Handy läutet, die Hausarbeit ist zu erledigen, ein Termin steht an etc. Alles nicht so leicht unter einen Hut zu bekommen.

    Trotz allem verlieben wir uns jeden Tag neu in einander. Unser Zusammengehörigkeitsgefühl ist riesengroß und wir wollen unsere Zukunft gemeinsam bestreiten. Auch wenn wir hin und wieder Angst davor verspüren, den anderen verlieren zu können. Davor ist niemand geschützt, das kann jedem passieren. Aber deshalb wollen wir nicht auf unsere Zweisamkeit verzichten.

  7. Wunderschöne Worte für ein Erleben, das viele Menschen mit Persönlichkeitsstörungen berichten – besonders mit einer Borderline Störung. Dieser Text hat mich sehr berührt. Liebe Grüße.

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