Das Kreuz mit den „U“: Kinder-Vorsorgeuntersuchungen fühlen sich manchmal ganz unglücklich an
„Wer hat die Krone auf?“ „Aus welchem Material besteht der Tisch?“ „Male ein Männchen.“ Typische Sätze aus Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt (allerdings: Stand 2010). „Niemand hat hier die Krone auf“, antwortet das schlaue Kind. „Aus Holz“, sagt die Kleine – puh, zum Glück kennt sie das Wort „Material“. „Ihr Kind malt das Männchen noch mit acht Fingern an einer Hand“, sagt der Kinderarzt. Die Mutter lässt den Kopf hängen. „Wie wird hier eigentlich mein Kind vermessen?“, denkt sie. Normtabellen überall. Doch werden sie dem Kind gerecht? Der Kinderarzt kennt es doch fast gar nicht. Nur Mutter und Vater wissen, wieviel es spricht, wie schnell es laufen kann, wie gut es sich zu helfen weiß. Doch die Fragen und Vermessungen beim Kinderarzt erscheinen manchmal wie eine Farce.
Eine Bekannte ist selbst Ärztin und Mutter dreier Kinder. Das Jüngste wurde zu einer Zeit geboren, als die „U 7a“ eingeführt wurde. „Mein Kind ist gesund“, dachte sich die Mutter – und vergaß die U 7a. Prompt flatterte ihr ein Brief vom Jugendamt ins Haus, mit der Aufforderung, doch zur „U“ zu gehen. Die U1-U9 waren nämlich zu dieser Zeit in vielen Bundesländern Pflicht.
Kontrolliert und schikaniert kommen sich da so manche Eltern vor. „Aber es gibt doch so viele Familien, in denen Kinder misshandelt werden – die wollen wir unbedingt erfassen“, heißt es dann. Einerseits: gut so. Andererseits ist es, als stünden die Eltern unter Generalverdacht. Doch viele problematische Familien erreicht man so gerade nicht – im Gegenteil: Der Druck auf die Familien wird erhöht, was zu mehr Gewalt und Verstecken führen kann.
Je größer die Kontrolle, desto besser die Tarnung
Der „Kontrollcharakter“, den die „U“ haben, setzt gerade Problemfamilien unter ungeheuren Druck und bietet Stoff für viele Konflikte. Eltern, die Probleme haben, die ihre Kinder misshandeln, suchen fast immer nach Hilfe. Aber sie fühlen sich verschreckt von kontrollierenden und moralisierenden Helfern. Die stärkere äußere Kontrolle und der strengere Blick bewirken, dass die betroffenen Familien versuchen, sich besser zu tarnen. Die Scham wird größer und hält die Eltern davon ab, Hilfe zu suchen. Das Kind wird gut instruiert und wirkt in der „U“ unter Umständen relativ unauffällig.
Der gute Wille, misshandelte und verwahrloste Kinder herauszufischen, schlägt manchmal in eine aggressive Suche um. Das spüren auch die „Problemfamilien“.
Die „guten Famiien“ fühlen sich entwertet. So ist niemandem geholfen. Hilfe wird nur suchen, wer dazu ermuntert und eingeladen wird. Doch wenn das „Hilfsangebot“ den Eindruck macht, die „Schuldigen“ zu verfolgen und ihnen auf die Pelle zu rücken, geht der Schuss nach hinten los.
Die Eltern merken, dass da was nicht stimmt
„Das Lippenbändchen ist zu dick,“ sagt der Kinderarzt. „Das Kind bevorzugt eine Seite,“ sagt die Kinderärztin. Na und? Der Junge mit dem dicken Lippenbändchen lächelt und sieht entzückend aus mit seinen neuen Milchzähnchen, die etwas weiter auseinanderstehen. Das Kind, das eine Seite bevorzugt, bevorzugt, bleibt vielleicht dabei. Wer von uns Erwachsenen hat nicht sein Standbein und seine Lieblingsseite? Manchmal können diese Dinge zum Problem werden. Doch in den meisten Fällen ist es eben kein „Problem“.
Unter den Müttern, die ich kenne, breiten sich Unbehagen und auch Aggressionen aus. „Nächste Woche müssen wir wieder zur „U“. Ich könnt‘ kotzen“, sagt eine Mutter.
Gestandene Akademikerinnen bekommen einen Herzkasper, wenn sie zur „U“ müssen. Das kann nicht richtig sein. Was alle Eltern und Kinder sich wünschen, ist Anerkennung und Wertschätzung. Schließlich tun Eltern alles erdenklich Mögliche für ihre Kinder, weil sie sie lieben. In der „U“ bekommen sie jedoch allzu oft das Gefühl, versagt zu haben oder zumindest, ein defizitäres Kind zu haben. Das Übergewicht eines Kindes wird mit einem roten Ausrufezeichen ins U-Heft eingetragen. Doch der Arzt fragt im Alltagsstress nicht nach den Umständen, erfährt nicht, dass der Vater die Familie verlassen hat, sieht nicht die magere Mutter und fragt nicht danach, was Mutter und Kind sich wünschen würden oder was ihnen gut täte. Aber natürlich gibt es auch viele Kinderärzte, die sich doch die Zeit nehmen können und sich interessieren. Wie Eltern die Vorsorgeuntersuchungen empfinden, hängt übrigens auch davon ab, wie schwer sie selbst als Kinder traumatisiert wurden.
Auch das Kind fühlt sich ab einem gewissen Alter „vermessen“ und spürt die besorgten Blicke, wenn es nicht so ist, wie die Normtabellen sagen. Viele Kinderärzte erkennen selbst das Dilemma und weisen auf die große Bandbreite der Entwicklungsschritte hin. Das mit der „U“ ist ja an sich eine gute Sache. Jetzt müssten nur noch Zwang, Enge und Kontrolle subtrahiert werden, damit sie zu dem werden kann, was sie sein will: eine Einladung, ein Hilfsangebot und eine Hoffnung für bedrängte und verlassene Eltern und Kinder.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Buchtipp:
Dunja Voos:
Liebst Du mich, auch wenn ich wütend bin?
Was gefühlsstarke Kinder wirklich wollen
Mehr Infos
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.4.2011
Aktualisiert am 21.9.2023
3 thoughts on “Das Kreuz mit den „U“: Kinder-Vorsorgeuntersuchungen fühlen sich manchmal ganz unglücklich an”
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Liebe Ina,
vielen Dank für Ihren Kommentar! Sie sprechen bestimmt vielen, vielen Müttern aus dem Herzen!
Ihnen viel Freude mit Ihrem kleinen zukünftigen Herrn Doktor :-)
Dunja Voos
Vielen Dank für diesen Artikel! Er hat mir sehr geholfen. Wir waren heute mit unseren beiden Kindern bei den Us. Der liebe Kinderarzt hat sich viel Zeit genommen und hat sein Bestes getan. Aber dann steht es im Heftchen: Windeldermatitis (nach 3. Monaten ein bisschen rot, das erste Mal! und ausgerechnet heute).
Der Große wollte nicht auf Fersen laufen, nicht auf einem Bein stehen und nicht einen Fuß vor den anderen setzen. Jetzt müssen wir zum Augenarzt, weil die drei Sachen nicht gestimmt haben. Auf dem Weg nach Hause so ein Bild: mein Kind geht zuerst auf Zehen, dann auf Fersen, dann rückwärts, dann steht er auf einem Bein und zählt dabei bis drei. Was sagen diese Us aus?
Der Arzt fragt: Ist euch was an ihm aufgefallen, dass er motorisch nicht so weit ist wie die Gleichaltrigen? Ich kenne meinen Sohn, er ist super motorisch für sein Alter, aber er hört zu und schaut mich eingeschüchtert an. Zum Teufel! Ich achte darauf, über ihn nicht in der dritten Person vor anderen so zu reden, schon GAR NICHT ihn vor ihm mit anderen zu vergleichen. Er will übrigens Arzt werden. Er sagt: Ich bin schon Arzt, Mami.
Und zum Schluss noch was. Beim Untersuchen sieht der Arzt blaue Flecken und meint: die kommen ja, weil er sich angestoßen hat, und dreht sich zu mir und sieht mich fragend an. O mein Gott! Im Kindergarten toben die Kinder wie wild, auf dem Spielplatz dasselbe, was soll ich dem Kinderarzt sagen? Ich fühle mich seltsamerweise schuldig für die ganz normalen normalsten Blauflecken auf der Welt! Und ich bin unruhig nun, von zu viel Kontrolle.