ADHS – das umstrittene Syndrom aus psychoanalytischer Sicht
Aus verhaltenstherapeutischer und psychiatrischer Sicht gibt es für die Diagnose „ADHS“ (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung) eindeutige Kriterien. Hierzu gehören die Diagnosekriterien nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases (DSM IV und DSM V) und der International Classification of Diseases (ICD-10: F90.0 und ICD-11: 6A05.2). Kinderärzte und Psychologen, die sich darauf spezialisiert haben, können anhand von Anamnese und Tests nach diesen Kriterien recht genau sagen, welches Kind ADHS hat. Sie behandeln dann meistens nach den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, AWMF (Leitlinie ADHS, 2017).
Auch viele Selbsthilfegruppen orientieren sich an einer eher biologischen Sichtweise. Sie sehen ADHS hauptsächlich als ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern an, die mittels Verhaltenstherapie und Medikamenten behandelt werden kann. Die psychoanalytische Sichtweise hingegen legt den Schwerpunkt auf das psychische Geschehen und auf die möglichen Ursachen in der Beziehung zu Mutter und Vater.
Für Eltern und Betroffene, die rasche Hilfe, Ratschläge und Verhaltensregeln suchen, kann die biologische Sichtweise hilfreich sein. Dennoch gibt es Betroffene, die hiermit nicht zurecht kommen und nach anderen Antworten für ihre Fragen suchen. Sie finden in psychoanalytischen Erklärungsansätzen die für sie passendere Hilfe. Wichtig ist vor allem: Es handelt sich nicht um eine Schädigung des Gehirns, sondern um eine „funktionelle Störung“, die prinzipiell auch wieder ins Gleichgewicht zurückfinden kann. Aus meiner Sicht hängt ADHS eng zusammen mit den Themen rund um die überaktivierte HPA-Achse.
Die „Stoffwechselstörung“
In der Langfassung der Leitlinien von 2017 heißt es:
„Bisherige hirnstrukturelle und -funktionelle Besonderheiten stellen jeweils weder hinreichende noch eine notwendige Bedingung der ADHS dar [66]. Auch ist bis dato unklar, inwieweit strukturelle und funktionelle Besonderheiten des Gehirns Ursache oder Folge der Symptomatik sind.“ (https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-045l_S3_ADHS_2018-06-abgelaufen.pdf)
Oft wird ADHS mit Diabetes verglichen. Doch das ist aus meiner Sicht nicht richtig: Bei einem juvenilen Diabetes ist tatsächlich das Organ geschädigt – hier gehen Bauchspeicheldrüsenzellen unter, sodass nicht mehr die Chance besteht, dass das Organ Insulin produziert. Das Gehirn des ADHS-Betroffenen ist jedoch grundsätzlich ok. Wenn die Betroffenen sich mit etwas beschäftigten, das sie wirklich interessiert, können sie sehr lange ruhig und konzentriert bei der Sache bleiben – manchmal sogar intensiver als Nicht-ADHS-Betroffene. Hier sprechen Psychologen auch von „Hyperfokussierung“. Das zeigt also, wie viel Bewegung im Spiel ist. Der unausgeglichene Hirnstoffwechsel – wenn man denn davon ausgehen will – kann wieder ins Gleichgewicht finden.
Psychoanalytische Sichtweise
Diagnosen sagen kaum etwas über die Lebensgeschichte eines Betroffenen aus. Die Diagnose „ADHS“ wird allein aufgrund der Symptome gestellt. Doch die Psychoanalytiker fragen nach dem „Warum“. Viele störende Symptome lassen nach, wenn Eltern und Kind lernen, den Sinn der Verhaltensauffälligkeiten zu verstehen. Nicht selten habe ich mit ADHS-Patienten gesprochen, die extrem unruhig waren. Doch sobald wir an den Punkt der Trauer kamen und die Betroffenen weinen konnten, ließ die Unruhe nach.
„Immer, wenn ich weinen kann, werde ich ganz ruhig.“ So explizit sagte es zu mir noch keiner – doch diese Gleichung ging mir in so mancher Sitzung durch den Kopf.
ADHS ist auch eine Frage der Beziehung. In Still-Face-Experimenten (Youtube, Dr. Edward Tronick) mit Kleinkindern zeigt sich: Wenn die Mutter mit ihrer Mimik und Gestik nicht auf ihr Kind reagiert, wenn sie nicht zurück lächelt, obwohl das Kind sie anlächelt, dann wird das Kind davon ganz unruhig. Manchmal fängt es sogar an, sich in die Hand zu beißen. Es gibt Theorien, die besagen, dass ADHS schon ihre Wurzeln in der frühen Mutter-Kind-Beziehung haben könnte, z.B. wenn die Mutter direkt nach der Geburt unter Depressionen litt und der Vater nicht ausreichend anwesend sein konnte.
Wenn Eltern so belastet sind, dass sie die Emotionen ihres Kindes nicht „containen“, also aufnehmen, können, dann ist das Kind mit seinen Gefühlen auf sich zurückgeworfen. Das kann innerlich so überfordern, dass Unruhe und Unkonzentriertheit die Folge ist. Kinder, die durch elterliche Geldsorgen und lauten Streit belastet sind, können sich in der Schule nicht konzentrieren. Dabei ist meiner Erfahrung nach zu beachten, aus welcher sozialen Schicht das betroffene Kind stammt. Kinder aus schwachen sozialen Schichten haben „anders“ ADHS als Kinder aus höheren sozialen Schichten. Oft spielt bei beiden jedoch unverarbeitete Trauer eine Rolle.
Hilfe kann beispielsweise darin bestehen, die Mutter zu entlasten und ihr einen Platz für ihre Sorgen zu geben, damit sie wieder freier für das Kind werden kann. Sobald ein Therapeut da ist, der die Mutter oder das betroffene Kind „aushält“, verwandelt sich unkontrollierte Wut oft in Trauer. In Gegenwart eines intensiv zuhörenden Therapeuten wird es leichter, zu weinen. Meistens ist dann zu beobachten, wie die motorische und innere Unruhe sichtlich nachlassen.
Schwierige Erkenntnisse
Meistens liegen die Gründe für die Unruhe bei ADHS tief im Verborgenen und rücken nur langsam, mit viel Vertrauen und Mut an die Oberfläche. Versteckte familiäre Gewalt, Ehekrisen, Alkoholerkrankungen, ein emotional oder real abwesender Vater, Geldsorgen, Überforderung, Tod eines Kindes oder Elternteils und vieles mehr können sich hinter der Diagnose „ADHS“ verbergen.
Der psychoanalytische Weg ist nur allzu leicht mit Schuldgefühlen verbunden. Die Eltern eines „ADHS-Kindes“, die schon am Ende ihrer Kräfte sind und sich dann auch noch schuldig fühlen, werden zu Recht wütend. Doch wenn ein einfühlsamer Therapeut Vater und Mutter zeigen kann, dass sie vielleicht zu der Unruhe des Kindes beitragen, aber keinesfalls „schuld“ daran sind, kann der Weg zu Linderung und Beruhigung gebahnt werden. Langsam können die ADHS-Symptome zurückgehen und dem „handfesten Schmerz“ Platz machen, der zur Veränderung führt. Das Gute daran: Es wird nicht länger „der Stoffwechsel“ oder „die Vererbung“ als hauptsächliche Ursache angesehen und es kann wieder ein Gefühl der Selbstwirksamkeit entstehen.
Dass ADHS kein unveränderliches „Schicksal“ ist, zeigt die Frankfurter Präventionsstudie des Sigmund-Freud-Instituts. In diesem von 2003-2006 gelaufenen Kindergartenprojekt unter Leitung von Marianne Leuzinger-Bohleber gab es deutliche Hinweise darauf, dass sich durch die psychoanalytische Unterstützung von Kindern, Eltern und Erzieherinnen der Störung vorbeugen lässt: Der Prozentsatz der ADHS-Kinder in der Grundschule ging zurück. (Frankfurter Präventionsstudie)
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Buchtipps:
Terje Neraal und Matthias Wildermuth (Hrsg.):
ADHS: Symptome verstehen – Beziehungen verändern.
Psychosozial-Verlag 2008
Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Brandl, Gerald Hüther (Hrsg.) (2006):
ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung.
Vandenhoeck & Ruprecht 2006
Rolf Haubl, Marianne Leuzinger-Bohleber (2007):
Hilfe für kleine Störenfriede:
Frühprävention statt Psychopharmaka
Vom kritischen Umgang mit der Diagnose „Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung“.
Forschung Frankfurt 3/2007: 52-55
http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/year/2008/docId/289
„Im Gegensatz zu Verhaltenstherapeuten betonen Psychoanalytiker, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität als Symptome zu verstehen sind, aber kein einheitliches diagnostisches Bild und schon gar keine Krankheit darstellen.“ (Haubl/Leuzinger-Bohleber)
Dr. phil. Frank Dammasch (10.1.2007):
„Elvira – immer vorwärts, nie zurück“
ADHS: Krankheit oder Beziehungsstörung?
www.psychoanalyse-aktuell.de
Dunja Voos (2012):
ADHS-Präventionsstudie: Signifikante Abnahme der Hyperaktivität nur bei Mädchen
Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung, 8. November 2012
Links:
- Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (VAKJP)
- Zentrales ADHS-Netz (hauptsächlich biologisch/verhaltenstherapeutisch orientiert)
Dieser Beitrag wurde veröffenticht am 8.12.2012
Aktualisiert am 1.9.2023
16 thoughts on “ADHS – das umstrittene Syndrom aus psychoanalytischer Sicht”
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Das freut mich, liebe Frau Singer-Jean, Danke!
Guten Morgen Frau Voos,
vielen vielen Dank für diesen Beitrag. Vielen Dank für Ihre ganze Seite!
Herzliche Grüße
Pauline Singer-Jean
Sehr geehrte „Herrschaft“,
in meiner Praxis behandele ich unter anderem auch erwachsene Patienten mit ADHS. Die Symptome lassen nach, wenn die psychischen Ursachen dafür gefunden werden. Das ist meine Erfahrung.
Mit freundlichen Grüßen
Dunja Voos
Hallo,
vor der Sinn Stiftung wird allgemein gewarnt!
(Suchworte bei Google: Warnung vor der Sinn Stiftung)
Wer solch eien Unsinn wie H.H. verbreitet [Anmerkung: Gerald Hüther], auch Sie Frau Voss! sollte mal mit betroffenen Erwachsenen sprechen und vtl. mal die Psychatrischen Kliniken und Raha Einrichtungen besuchen!
dann werden Sie hoffentlich still sein.
Es gibt immer schwarze Schafe,die falsch diagnostizieren,aber:
Eine unbehandelte ADHs ist ein verpuschtes Leben!!!
Herrschaft
Wenn ADHS erst spät diagnostiziert wird, ist es nur logisch, dass auch ein psychoanalytischer Ansatz helfen kann. Der oder die Betroffene hat nach Jahrzehnten unbehandelten Leidens eine ganze Reihe mehr oder weniger ausgeprägter komorbider Störungen entwickelt. Ich habe im Alter von 19 Jahren die Diagnose bekommen und mich bisher gegen Medikamente entschieden. Jetzt, ein Jahr später, merke ich, wie dämlich dieses radikale Ablehnen war. ADHSler wählen nämlich immer Medikation: Entweder eine vom Arzt überwachte, dosierte, konstruktive Medikation oder eine unkontrollierte, undosierte, destruktive Selbstmedikation. ADHSler erkennen sich untereinander und so kenne ich neben meinen eigenen unbewussten, noch halbwegs verantwortbaren Medikationsstrategien auch ziemlich schlimme Formen der Selbstmedikation. Das ist eben oft nicht nur permanenter Konsum von Kaffee, Club Mate, taurinhaltige Energydrinks, sondern eben auch verstärkt Alkohol, Nikotin und Cannabis. Auch Kokain, das in seiner Struktur Methylphenidat ganz ähnlich ist – wenn ich das richtig verstehe – ist bei einem ausgeprägten Fall in meinem Bekanntenkreis vorgekommen. Die gesündeste Form der Selbstmedikation ist wohl der exzessive Sport, der meist zumindest für kurze Zeit hilft. Subtile Formen sind Sucht nach dem Rausch des Kaufens, Sucht nach der Endorphinausschüttung bei Sex und vieles mehr. Wer also meint, die Frage sei OB Medikation ja oder nein, der versteht die Lebenswirklichkeit eines ADHSlers nicht. Die wirkliche Frage ist, WELCHE Medikation geeignet ist und welche Begleitanstrengungen in Form von Therapie oder Psychoanalyse hilfreich sein können.
Viele Grüße,
Jonas
Für eine angeborene meist genetisch bedingte Stoffwechselstörung des Gehirns sprechen folgende Studienergebnisse:
*70-80% der ADHS sprechen auf Methylphenidat an, sprich können sich damit besser und länger konzentrieren, sind weniger (oder nicht mehr) hyperakiv, zappelig, unruhig, usw.Viele Kinder können in der Schule erst unter Medikation ihr volles intellektuelles Potential entfalten, nicht selten werden „schlechte“ Schüler zu „guten“ Schülern.
*Sogar gegen das oppositionnelle Trotzverhalten wirkt MPH nachweislich.Viele Eltern von ADHS Kindern berichten über das Verschwinden oder zumindest über eine geringere Häufigkeit von Wutanfällen, Verringerung oder sogar Verschwinden von Agressivität, usw.
Einem Kind MPH aufgrunde Vorurteilen vorzuenthalten ist für mich persönlich unterlassene Hilfsleistung.
*Negative Interaktionen mit der Umwelt (Überreagieren, Anschreien, Schlagen), Depression der Mutter (40% der Mütter von ADHS Kinder leiden schätzungsweise an Depression) und Ehestreite sind nicht die primäre Ursache des ADHS bzw. der Verhaltensstörungen des Kindes (50% der ADHS Kinder leiden zusätzlich unter oppositionellem Trotzverhalten), sondern in der Regel die Folge der schwierigen Interaktionen mit dem Kind (das Kind muß mehrmals aufgefordert werden, etwas zu tun, will nicht gehorchen, immer alles bestimmen, bekommt wegen Kleinigkeiten Wutanfälle, usw.)
*Es kommt dann zu einem Teufelskreis von negativen Verhaltensweisen und Interaktionen zwischen Kind und Eltern, die sich gegenseitig verstärken (trotzige Reaktion des Kindes auf Aufforderung der Eltern erzeugt bei ihnen Ohnmachts- und Wutgefühlen und bei eigener niedriger Frustrationsgrenze und Steuerungsfähigkeit gelegentlich oder häufig auch agressive Verhaltensweisen.Diese erzeugen beim Kind wiederum Wutgefühle, was seine Agressivität verstärkt.).
*Negative Verhaltensweisen der Elterrn (negative Aufmerksamkeit im Sinn von Schimpfen/Schreien/Drohen/Schlagen) fördern nachsweislich das Auftreten von negativen, agressiven Verhaltensweisen beim Kind und verstärken langfritig diese Verhaltensweisen.
*Deswegen wird zusätzlich zu der Medikamention (die nicht bei allen Kindern notwendig ist) offiziell (Leitlinien) Verhaltenstherapien angeboten, wie ADS Elterntraining für die Eltern ,Konzentrationstraining zur Förderung der Konzentrationsfähigkeit und Daueraufmerksamkeit und evtl. beim oppositionnellem Trotzverhalten zur Förderung der zwischenmenschlichen Konfliktlösungsfähigkeit Sozialkompetenztrainung für das Kind empfohlen.
Diese multÃmodale ADHS Therapie hat in wissentschaftlichen Studien die besten Ergebnisse gebracht, mehr als eine Medikation allein oder Verhaltenstherapien allein, wobei die Medikation mit MPH die größte Wirkung zeigte.
Wenn ein Kind unter Medikation imstande versetzt wird, besser auf die von den Eltern erlernten positiven Erziehungsmaßnahmen zu reagieren, dann kann sich die konflikhafte, angespannte Beziehung zwischen Eltern und Kind endlich entspannen, die Verhaltensauffälligkeiten treten weniger oder deutlich geringer auf (oder verschwinden ganz) und das Kind kann endlich positive Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen machen und in der Schule, was sein Selbstwertgefühl stärkt und das Risiko späteren Entgleisungen wie Delinquenz, Sucht, Schul-Ausbildungs- und Berufsversagen, senkt.
Viele Eltern von ADHS Kindern werden von den gängigen Vorurteilen über „Ritalin“ verunsichert und zögern lange, bevor sie ihrem Kind dieses Medikament verabreichen.Das kann dazu führen, daß das Kind ohne Medikation eine Reihe von negativen Erfahrungen macht und verhaltensauffällig (oppositionell, agressiv) wird, in der Schule und der Ausbildung versagt, keine beständigen Freundschaften aufrechterhalten kann und aufgrunde der ständigen Ablehnungs-und Versagenserfahrungen schwer depressiv wird.
Welche Gene sollen denn ganz genau die oben genannten Funktionsstörungen auslösen? Warum haben sie das nicht schon früher gemacht? Haben sich die Menschen in letzter Zeit genetisch verändert? Kann das alles überhaupt sein? Wer steuert die Gene – die Gene selber? Oder doch die Umwelt, einschließlich der geistigen Umwelt.
Zum Dogma der Steuerung des Menschen durch die Gene: siehe z.B. „Intelligente Zellen – Wie Erfahrungen unsere Gene steuern“, Bruce Lipton, einem Molekularbiologe.
Lieber Tigger,
jeder Patient darf nach seinem Weg suchen. Und wem es gut geht mit der Theorie, dass ADHS zu 80% genetisch bedingt sei, dem wird das auch reichen. Es reicht vielen auch, Volumenminderungen im Gehirn als ein genetisches Schicksal anzusehen, die eine „ADHS beweisen“ (was ein Trugschluss ist). Jedenfalls können viele Patienten oder Eltern mit diesen „festen“ Bildern gut zurecht kommen. Doch nicht jeder Patient möchte auf dieses Abstellgleis.
Die viel zitierten Volumenminderungen sind nicht unbedingt ein genetisches Schicksal. Auch sie können durch die Umwelt verursacht sein. Und was die Zwillingsstudien betrifft: Gerade sie täuschen manchmal eine genetische Vererbbarkeit nur vor. Schon im Mutterleib beginnt die Umwelt auf das Ungeborene einzuwirken. Auch Zwillingsstudien beweisen nicht, dass ADHS ein genetisches Schicksal ist.
Wissenschaftler, die nicht an die „genetische ADHS-Theorie“ glauben, möchten den Betroffenen keineswegs einen „Schlag ins Gesicht“ verpassen. Sie möchten ihren Patienten vielmehr neue Wege und Chancen eröffnen.
Viele Grüße von Dunja Voos
Ich finde es auch grundsätzlich richtig, diese Kontroverse zu thematisieren, gerade weil oft so viel Unklarheit darüber herrscht.
Ich möchte noch einmal auf Dunjas letzten Kommentar eingehen.
>>Dieser Definition zufolge handelt es sich um eine “Funktionsstörungâ€, also nicht explizit um eine Organschädigung. Funktionsstörungen jedoch haben fast immer auch die Chance, wieder zurück zu ihrer normalen Funktion zu finden oder erst gar nicht zu entstehen.<<
Es ist richtig, wenn man sagt, dass man bei ADHS keine Organschädigung im Gehirn sehen kann, so wie bspw. bei einem Schlaganfall oder Tumor etc. Allerdings haben einige Studien gezeigt, dass in bestimmten Hirnregionen (Striatum, Frontallappen) bei ADHS eine Volumenminderung besteht. Die Bezeichnung „Funktionsstörung“ klingt für mich sehr allgemein gehalten. „Stoffwechselstörung“ passt meines Erachtens besser, weil es den Transmittermangel in bestimmten Hirnregionen besser beschreibt.
Die ADHS-Symptomatik ist vorwiegend genetisch bedingt, wird aber durch Umwelteinflüsse bis zu einem gewissen Grad modifiziert. Der Anteil der Gene liegt bei 50-80% (die Angaben sind nicht überall gleich; Erkenntnisse aus Zwillingsstudien). Wenn man das im Auge behält, lässt sich verstehen, dass ADHS durch eine Psychotherapie allein nicht ausreichend behandelt werden kann. Die komplette Symptomatik ist einer Psychotherapie leider nicht zugänglich, Teile aber schon (v. a. das negative Selbstbild durch viele negative Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen). Die Erfahrungen der meisten ADHSler, die ich kenne, zeigen, dass alleinige Psychotherapien meist nicht wirklich halfen.
Noch ein Wort zu Hüther: Er ist ein ADHS-Gegner (und das als Neurobiologe!). Er bezweifelt die Existenz von ADHS (wie auch die „Konferenz ADHS“). Es ist für ihn nur ein Konstrukt, aber keine eigenständige Störung. Diese Einstellung ist ein Schlag ins Gesicht jedes Betroffenen, weil sie das Leiden dieser Menschen verkennt. Genauso gut könnte ich sagen: Depressionen oder Schizophrenie existieren nicht. Solchen Menschen sollte man m. E. nicht allzu viel Beachtung schenken.
Hallo,
habe jahrelang Therapien gemacht (12 Jahre lang) bis dann die Diagnose ADHS von meiner Schwester kam. Diese Therapien haben mir bis dahin nicht geholfen meine ADHS – Probleme los zu werden. Auch die Behandlung mit diversen Antidepressiva wie Remergil oder Duloxetin hat meine Symptomatik nicht positiv beeinflusst.
Alles in allem finde ich es schrecklich wie verdammt wenig Verhaltenstherapeutin und Psychoanalytiker bei denen ich auch war von dem Syndrom wissen. Das meine Schwester mir die Diagnose geben musste ist echt die Höhe. Mittlerweile wurde die Diagnose von zwei Ärzten bestätigt.
Psychoanalytiker haben früher auch gedacht, dass sie Homosexualität heilen können. Heute weiß man das es Unfug ist und bei ADHS ist dies eigentlich auch so. Aber schön, dass hier so ein Artikel steht….
Dunja schreibt, wenn sogenannte ADHS-Kinder das tun, was sie interessiert, so können sie sich sehr lange auf eine Sache konzentrieren.
Wir haben deshalb eine Sammlung von Spielen und Tipps für Kinder mit ADS und anderen Teilleistungsstörungen zusammengestellt. Sie können die Sammlung ganz einfach nach Förderbedarf und Alter durchsuchen:
http://www.spielundlern.de/index.php/cPath/3_531
>>Wenn sogenannte ADHS-Kinder das tun, was sie interessiert, so können sie sich sehr lange auf eine Sache konzentrieren. Auch, wenn diese Eigenschaft mit dem Begriff “Hyperfokussierung†schon wieder pathologisiert wird, so ist es doch ein Zeichen dafür, dass sie sich konzentrieren können.<<
Leider ist das nicht immer so und gilt auch nicht für alle ADHS-Kinder (oder -Erwachsene). Und dass Konzentration nur bei interessanten Themen möglich ist (wozu eine Psychotherapie auch nicht unbedingt immer zählt), und sonst nicht, bestätigt ja trotzdem, dass eine Störung vorliegt. Ohne dieses Aufmerksamkeitsdefizit wäre eine Konzentration ja auch bei weniger interessanten Themen möglich (so wie bei jedem gesunden Menschen). Das ist der springende Punkt.
Eine lesenswerte Diskussion der ADHS-kritischen Argumente der „Konferenz ADHS“ findet man hier:
http://www.adhs.ch/forum/blog.php?u=2&blogcategoryid=9&page=6
(beginnend auf Seite 6 immer weiter nach vorn durchklicken)
Auf dem Portal von ADD-Online findet man sehr viele Hintergrundinformationen und v. a. Antworten auf viele Fragen zum Thema ADHS. Sehr lesenswert für Interessierte.
Übrigens: Meine Kommentare hier bitte nicht als Provokation o. ä. verstehen. Ich stelle nur leider oftmals fest, dass zum Thema ADHS oftmals falsche (und letztendlich den Patienten schadende) Ansichten vorherrschen. Ein unruhiges Kind hat noch nicht gleich ADHS. Erst recht kein traumatisiertes. ADHS ist eine angeborene Disposition zu PERMANENT mehr oder weniger ausgeprägten Beeinträchtigungen im täglichen Leben, in dessen Folge sich weitere psychische Störungen „aufpfropfen“ können (Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Substanzabhängigkeit usw.). Deshalb ist eine frühe adäquate Therapie nötig.
Ob die ADHS angeboren ist, darüber diskutieren die Wissenschaftler noch. In den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V. heißt es:
„ADHS wird als neurobiologisch heterogenes Störungsbild mit Dysfunktionen in Regelkresen zwischen präfrontalem Kortex, parietookzipitalem Kortex, Basalganglien und Cerebellum auf dem Boden einer Neurotransmitterfunktionsstörung im dopaminergen System gesehen.“
Dieser Definition zufolge handelt es sich um eine „Funktionsstörung“, also nicht explizit um eine Organschädigung. Funktionsstörungen jedoch haben fast immer auch die Chance, wieder zurück zu ihrer normalen Funktion zu finden oder erst gar nicht zu entstehen.
Die Frankfurter Präventionsstudie von Professor Leuzinger-Bohleber weist bereits in Ansätzen nach, dass sich durch Präventionsmaßnahmen im Kindergarten der ADHS im Grundschulalter vorbeugen lässt.
Auch Psychoanalytiker nehmen die Ergebnisse aus der Neurobiologie und der bildgebenden Diagnostik zur Kenntnis. Doch auch hier gibt es Studien, die zeigen, dass Psychotherapie Stoffwechselprozesse und „Nervenstraßen“ verändern kann. Der Neurobiologe Gerald Hüther stellt auf wunderbare Weise dar, dass die Ergebnisse der Bildgebung nicht starr sind und sich psychoanalytische und neurobiologische Erkenntnisse wunderbar verbinden lassen.
Auch die Diagnose „ADHS“ ist nichts Starres. Früher gab es dafür die Bezeichnung „Minimale zerebrale Dysfunktion (MCD)“ – doch bereits diese Bezeichnung ließ sich mit vielen Beobachtungen nicht vereinbaren. Heutzutage wird die Diagnose „ADHS“ mit der Diagnose „bipolare affektive Störung“ in Zusammenhang gebracht. Ein weiteres Zeichen dafür, dass längst nicht so viel Klarheit zur ADHS besteht, wie es oft behauptet wird.
Wenn sogenannte ADHS-Kinder das tun, was sie interessiert, so können sie sich sehr lange auf eine Sache konzentrieren. Auch, wenn diese Eigenschaft mit dem Begriff „Hyperfokussierung“ schon wieder pathologisiert wird, so ist es doch ein Zeichen dafür, dass sie sich konzentrieren können. Unter anderem auch auf ihre Therapiestunde, wenn der Therapeut das Kind einfühlsam begleitet. Es gibt vielleicht Kinder, die erst durch Medikamente überhaupt dazu fähig werden, eine Psychotherapie zu beginnen. Aber das ist längst nicht immer so.
Die psychoanalytische Therapie ist ein Weg, der helfen kann – natürlich nicht immer, aber die Möglichkeit besteht. Wichtig ist doch, dass den Hilfesuchenden die ADHS aus verschiedenen Blickwinkeln erklärt wird, damit sie sich für eine oder meherere Behandlungsformen entscheiden können. Psychoanalytische Erklärungsansätze zur ADHS sind im Vergleich zu verhaltenstherapeutischen und neurobiologischen Modellen doch selten zu finden. Doch auch, wenn psychoanalytisch orientierte Fachleute ihre Theorien vertreten, heißt das ja nicht unbedingt, dass sie die anderen Zugangswege zur ADHS ausschließen.
Wenn ich sowas lese, frage ich mich immer, was die Psychoanalytiker damit bezwecken wollen, wenn sie die neurobiologischen Ursachen von ADHS negieren. Schließlich ist ja niemandem geholfen, wenn die Ursache für eine Störung verdrängt oder verleugnet wird. Gerade die Psychoanalytiker müssten das ja wissen.
Der Punkt ist, dass Psychonanalytiker meinen, ADHS (bzw. die zugrunde liegenden „Hintergründe“) zu verstehen. Dabei scheinen viele gerade nicht verstanden zu haben, dass heutzutage eigentlich niemand mehr an den neurobiologischen Ursachen vorbeikommt. ADHS auf eine Beziehungsstörung oder ähnliches zurückzuführen, bedeutet, heute bekanntes Wissen zu ignorieren. Eine solche Störung ist auch mit ADHS nicht gemeint. ADHS bedeutet nicht „unruhiges Kind“ oder ein Kind, das schwer zu erziehen ist. ADHS ist eine ANGEBORENE und – wie man heute weiß – in den meisten Fällen (50-60%) lebenslang bestehende Erkrankung bestimmter Hirnbereiche. Deren Wechselwirkungen mit der Umwelt komplettieren die Symptomatik.
Eine Psychotherapie (auch eine psychoanalytisch orientierte) kann in den meisten Fällen nur auf der Basis einer optimal eingestellten Medikation funktionieren, vor allem bei Erwachsenen. Ist auch plausibel: Wie soll eine Psychotherapie Sinn machen, wenn sich der Patient nur schlecht bis gar nicht konzentrieren oder zuhören kann?
Was ich diesem Artikel anrechne, ist, dass er nicht die Medikamente ins Reich der Drogen stellt, so wie es andernorts oft zu lesen ist. Wer sich mit ADHS beschäftigt, weiß, dass dem nicht so ist.
Viele Eltern stehen der Medikamentengabe sehr kritisch gegenüber, sie sollten sich daher gründlich darüber informieren, ob sie das wirklich wollen.
Verhaltenstherapie kann eine gute erfolgreiche Alternative sein.
Viele Grüße,
die ergobloggerin
Der psychoanalytische Ansatz ist nur einer von vielen möglichen. Es gibt viele Patienten, die mit einer Verhaltenstherapie und/oder Medikamenten sehr gut zurecht kommen. Der Artikel soll nur darauf hinweisen, dass man die ADHS auch aus analytischer Perspektive betrachten kann. Leider ist es für viele Patienten auch schwierig, an einen analytischen Psychotherapeuten zu gelangen. Führt der erste Weg beispielsweise zum Psychiater, so ist es eher wahrscheinlich, dass ein Patient verhaltenstherapeutische Sichtweisen und Medikamente mit an die Hand bekommt. Dass die Medikamente eine Wirkung haben, steht außer Frage.