Sexueller Missbrauch in den Medien: einseitige Nein-Sage-Beiträge werden Kindern nicht gerecht

In den Medien und in der Schule wird oft sehr einseitig über sexuellen Missbrauch aufgeklärt. Auch heute noch findet man ähnliche Sätze wie in einem Artikel der ZEIT von 2010: „Bei sexuellem Missbrauch geht es immer darum, dass Erwachsene etwas mit Kindern machen, was die Kinder nicht wollen“ (Kinder-ZEIT vom 22.4.2010: „Nein zu Kindesmissbrauch!“). Da sollen Kinder lernen, „Nein!“ zu sagen und „schlechte Gefühle“ rechtzeitig zu erkennen. Möglicherweise sind solche Präventions-Versuche besser als nichts. Doch viele Menschen, die als Kinder selbst missbraucht wurden, können über solche „Nein!“-Beiträge nur den Kopf schütteln – so sehr gehen sie an der Realität vieler Betroffener vorbei.

Häufig findet Missbrauch in der eigenen Familie statt. Wenn Vater oder Mutter das Kind sexuell missbrauchen, sind sie selbst meistens psychisch krank und können keine gute Partnerschaft erleben. Das Kind, das missbraucht wird, wird oft in einem Klima groß, in dem es nicht lernen darf, sich zu behaupten. Diese Konstellation findet sich in den Familien missbrauchter Kinder immer wieder. Schwerer Missbrauch, wie z.B. Penetrationen beim Baby oder Kleinkind, können wahrscheinlich zur Entstehung von Psychosen beitragen. Schweren Missbrauch finden auch die Kinder schrecklich, doch bei vielen Missbrauchsformen gibt es schwer zu beschreibende Grauzonen.

Der Missbrauch beginnt oft schleichend – häufig, wenn die Kinder vier oder fünf Jahre alt sind. In dieser Phase entdecken sie selbst ihre Sexualität und sind interessiert an allem, was damit zu tun hat. Die Kinder wollen im Spiel oder beim Toben mitunter auch den Körper der Eltern erkunden. Es ist Aufgabe von Vater und Mutter, bei zu deutlicher Erkundung „Nein“ zu sagen und die Grenze zu setzen. Einer der Gründe, warum so viele ehemals Missbrauchte an Schuldgefühlen leiden ist, dass sie selbst dabei häufig nur verdeckt „schlechte Gefühle“ hatten. Auch mit dem Begriff „Sexuelle Gewalt“ können viele Opfer nichts anfangen – wenngleich es natürlich viele Arten sexuellen Missbrauchs gibt, wobei häufig auch schmerzhafte Gewalt dabei ist.

Das Schwierige am sexuellen Missbrauch ist jedoch oft, dass er eingebettet ist in eine Gefühlswolke, in der sich Gut und Böse kaum abgrenzen lassen. Die seelischen Schmerzen folgen manchmal erst nach der „erotischen“ Situation oder sogar erst nach Jahren des Missbrauchs. Manchmal kann noch nicht einmal mehr der Zusammenhang der seelischen und körperlichen Beschwerden zum Missbrauch hergestellt werden.

Es sind die Erwachsenen, die sich nicht abgrenzen können oder wollen. Auf die Idee, „Nein“ zu sagen, kommt das Kind meistens gar nicht. Vielleicht sucht es sogar das sexuelle Spiel mit dem Erwachsenen immer wieder auf, denn dieses Spiel wird in bestimmten Familien leicht zur Sucht. Ein Kind, das von seinen Eltern wenig Liebe erfährt, sucht einen Ersatz – und nimmt die „Aufmerksamkeit“ des Erwachsenen an, weil es sonst vielleicht gar nichts hätte. Dass da etwas nicht stimmt, spürt es fast immer. Aber es kann sich nicht wehren.

Ein Kind, das in dieser Situation steckt, wird sich nur selten jemandem anvertrauen, weil es gar nicht erfasst, dass da etwas Folgenreiches mit ihm passiert, das ihm zum Beispiel spätere Partnerschaft erschweren kann. Sexueller Missbrauch bedeutet Verstrickung, die blind macht.

Sind die Kinder älter und können sie nachdenken, dann ist wahrscheinlich auch ein „Nein“ und ein deutliches „ungutes Gefühl“ möglich. Doch bei den Jüngeren ist das noch anders. Kaum ein Kind wird auf die Idee kommen, das Familiensystem in Gefahr zu bringen. Darum ist und bleibt es schwierig, die betroffenen Kinder aufzuklären und zu erreichen. Oft sind die Betroffenen durch solche vermeintlich aufklärerischen Beiträge sogar noch verunsicherter, weil in vielen Beiträgen alles so „einfach“ erscheint, während sie selbst nicht wissen, wo hinten und vorne ist.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Harald Martenstein:
„Sie trug Ringelsöckchen!“
Zeit Magazin Nr. 23, 2.6.2010:

(Martenstein fasst Bodo Kirchhoffs Worte aus der Sendung „Beckmann“, 26.4.2010, zusammen:) „… er habe diesen Lehrer sehr bewundert und, wenn er ganz ehrlich zu sich sei, wohl auch ermutigt. Das alles habe ihm zunächst nicht missfallen, die damit für ihn verbundenen Beschädigungen seien ihm erst nach und nach klar geworden. Daran fand ich nichts skandalös. Die Wahrheit kann eigentlich nie skandalös sein. Aber Beckmann hatte Angst, dass die sehr genaue Beschreibung der Empfindungen eines Opfers – das sich am Anfang oft nicht als Opfer begreift, auch deshalb ist später die Scham so groß – durch den Autor Kirchhoff als Verharmlosung des Missbrauchs verstanden wird.“

Christian Bahls:
An Bodo Kirchhoff
MOGIS e. V. – eine Stimmme für Betroffene

Bodo Kirchhoff:
Erinnerungen. Sprachloses Kind
www.spiegel.de, 15.3.2010:

„Der ganze Sex-Sprachmüll hat die Sprachnot der Betroffenen nicht gelindert, im Gegenteil: Für die schlichte Wahrheit gab es jetzt gar keine Worte mehr. Und lieber behält man intimen Schmutz für sich, als ihn einer schmutzgierigen Welt auszusetzen, die sich nur respektlos erschüttert zeigt.“

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF)
Kindesmissbrauch wirksam begegnen
12.5.2010

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 11.7.2012
Aktualisiert am 7.9.2019

3 thoughts on “Sexueller Missbrauch in den Medien: einseitige Nein-Sage-Beiträge werden Kindern nicht gerecht

  1. Jay sagt:

    Der Autor Sam Vaknin glaubt, dass sexueller Missbrauch an Kindern, solange er nicht als Ersatzhandlung für die Sexualität mit Erwachsenen ausgeführt wird, immer einen narzisstischen Hintergrund hat und dass es das extreme Machtgefälle zwischen Täter und Opfer ist, das den Reiz für den Täter ausmacht.
    Daher kommt Vaknin zu dem Schluss, dass Pädophilie in diesem Fall eine auto-erotisch motivierte Handlung ist, bei dem das Kind weniger als tatsächlich sexuell begehrenswert empfunden wird, sondern vielmehr ein Spiegel ist, in dem der Täter seine Macht spüren kann.
    Leider ist in Deutschland mit diesem Thema kein zivilisierter Umgang möglich.
    Sofort schreit der gesamte Biertisch „Wegsperren!“ oder „Todesstrafe!“ – als könnte man das Böse in der Gesellschaft an einzelnen Tätern ausmerzen.
    Programme wie „Kein Täter werden“, bei dem sich Betroffene melden können, die an sich pädophile Neigungen feststellen, bevor (!) das Verbrechen geschieht, finden kaum Beachtung.

  2. H. sagt:

    Dieser Blog-Beitrag ist auf seine Art aber auch einseitig. Hier wird unterstellt, alle Kinder, oder wenigstens der Großteil, würden den Unterschied zunächst nicht merken, weil es eben nur „erotisch“ wäre und nicht sexualisierte Gewalt. Bei sexualisierter Gewalt merkt jedes Kind sofort, dass das nicht sein darf, denn das hat überhaupt nichts mit Erotik zu tun. Aber jedes „Nein“ ist sinnlos, denn in der deutschen Jugendhilfe wird nur den missbrauchenden Eltern geholfen ihr Kind ruhig zu stellen, nicht den Kindern.

  3. B. sagt:

    Danke, für diese wahren Worte!! Sie sprechen mir aus dem Herzen, ‚Nein‘ sagen, als ob das so einfach wäre. Aber genau so wird es oft dargestellt, dass man ja nur nein sagen muss…
    Ich muss an dieser Stelle auch loswerden, dass die sicherlich gutgemeinte Kampagne ‚Sprechen hilft‘ für Betroffene nicht wirklich hilfreich ist und teilweise sogar das Gegenteil hervorruft, weil sie äusserst triggernd ist (was an sich für die Qualität und gute Umsetzung spricht, aber nicht besonders sensibel den Betroffenen gegenüber ist…).

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